Mattäusevangelium 4,12-23: 12 Als Jesus hörte, dass man Johannes (den Täufer) ins Gefängnis geworfen hatte, zog er sich nach Galiläa zurück.13 Er verließ Nazaret, um in Kafarnaum zu wohnen, das am See liegt, im Gebiet von Sebulon und Naftali.14 Denn es sollte
sich erfüllen, was durch den Propheten Jesaja gesagt worden ist: 15 Das Land Sebulon und
das Land Naftali, die Straße am Meer, das Gebiet jenseits des Jordan, das heidnische Galiläa: 16 das Volk, das im Dunkel lebte, hat ein helles Licht gesehen; denen, die im
Schattenreich des Todes wohnten, ist ein Licht erschienen. 17 Von da an begann Jesus zu
verkünden: Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe.
18 Als Jesus am See von Galiläa entlangging, sah er zwei Brüder, Simon, genannt Petrus,
und seinen Bruder Andreas; sie warfen gerade ihr Netz in den See, denn sie waren Fischer.
19 Da sagte er zu ihnen: Kommt her, folgt mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern
machen. 20 Sofort ließen sie ihre Netze liegen und folgten ihm. 21 Als er weiterging, sah
er zwei andere Brüder, Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und seinen Bruder Johannes; sie
waren mit ihrem Vater Zebedäus im Boot und richteten ihre Netze her. Er rief sie, 22 und
sogleich verließen sie das Boot und ihren Vater und folgten Jesus.
23 Er zog in ganz Galiläa umher, lehrte in den Synagogen, verkündete das Evangelium
vom Reich und heilte im Volk alle Krankheiten und Leiden.
1. Im Rampenlicht. Es ist erst einige Tage her, da zogen wie jedes Jahr die Jahresrückblicke durch die Programme der Sender und die Seiten der Feuilletons. Sendungen und Artikel, die die Ereignisse und Skandale des vergangenen Jahres noch einmal wie im Schnelldurchlauf vorführen. Das Ereignis, das über das Jahr 2001 hinaus öffentlich wirkmächtig bleibt, ist sicher
der Terroranschlag in den Vereinigten Staaten. Die Aufnahmen von den einstürzenden
Türmen des World Trade Center haben sich allen ins Gedächtnis gebrannt. Trotzdem: Was
bei solchen Jahresrückblicken vor allem auffällt, ist unser aller schlechtes Gedächtnis! In der Regel
wird für ein Thema einige Wochen oder Monate lang Aufmerksamkeit erzeugt, wenn es
hohe Einschaltquoten verspricht. So lange, bis sein Neuigkeitswert verbraucht ist. Dann
wird es abgelöst: von der nächsten Sensation, dem nächsten Skandal. Politiker und Unterhaltungskünstler sind auf die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit angewiesen. Sie tun gut
daran, für die Medien ein interessantes Thema zu bleiben. Dass das so ist, hat seine eigenen
Folgen: Menschen mit öffentlichen Rollen richten ihr Reden und Handeln danach aus,
welche Schlagzeilen es machen wird. Und sie verdichten ihr Leben zu medientauglichen
Legenden. Denn sie sind davon abhängig, im Rampenlicht des Neuen zu stehen und
zugleich über den Tag hinaus erinnert zu werden.
2. Das Schweigen der Evangelien. Die Evangelien stellen uns Jesus als eine öffentliche Person vor. Plötzlich ist er da und
beginnt zu predigen und zu wirken. Seine Kindheit und Jugend bleiben im Dunkeln. Auch
dort, wo - wie im Mattäus- und Lukasevangelium - eine Geburtsgeschichte dem
Wirken Jesu - wie eine Ouvertüre - vorangestellt wird: Diese Erzählungen enthalten wenig Historie und noch weniger Psychologie. Sehr unbefriedigend in unserem Medienzeitalter: Da
interessieren die Details seiner Herkunft, die Stimmung im Elternhaus, die Inhalte seiner
Ausbildung. Spätere Legenden haben hier mit mehr oder weniger frommer Phantasie nachgeholfen und ausschmückende Anekdoten erzählt. Die Evangelien dagegen schweigen, denn
sie wissen: Woher Jesus ist, darauf haben rührende Kindheits- und Familiengeschichten
keine Antwort. Die Evangelien schweigen über eine Entwicklungspsychologie Jesu und
verkünden gerade damit das Geheimnis seiner Herkunft: Dieser Mensch kommt von Gott.
Das ist das alles Entscheidende. Das soll im Mittelpunkt unseres Interesses stehen. Das ist
wichtiger als unsere Neugier.
3. Die Antwortverweigerung Jesu. Die Evangelien zeigen uns Jesus als öffentliche Person. Er beginnt mit einer Predigt, die Aufsehen erregt: "Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe!" Wörtlicher übersetzt: "Ändert euren Sinn, denn Gott tritt jetzt seine Königsherrschaft an!" In diesen Worten liegt Zündstoff: Jesu Predigt kündigt Neues an und fordert zu Neuem heraus.
4. Gottes Lichtregie. Die Evangelien zeigen uns Jesus als öffentliche Person. Es heißt, dass er Krankheiten und
Leiden der Menschen heilte. Das Licht der Öffentlichkeit, das auf Jesus fällt, will Jesus
nicht für sich. Was im Buch des Propheten Jesaja verheißen war, wird jetzt Wirklichkeit:
"Das Volk, das im Dunkel lebte, hat ein helles Licht gesehen; denen, die im Schattenreich
des Todes wohnten, ist ein Licht erschienen." Die im Dunkel waren, kommen ans Licht.
Jesus stellt in das helle Licht Gottes alle, die bislang verborgen und unsichtbar gemacht
wurden: die Kranken, die Aussätzigen, die Sünder. Sehr unbefriedigend in unserem Medienzeitalter. Solche Nachtgestalten taugen uns für die eine oder andere Sozialreportage
oder wohligen Grusel. Ansonsten gilt: "Die im Dunkel sieht man nicht." Die Schlagzeilen
füllen die Lichtgestalten, die "Stars", Sterne oder Sternchen: Politstars, Filmstars, Medienstars. Für die Evangelien dagegen ist das alles Entscheidende: Gottes Licht fällt auf
die, die im Dunkeln gelassen sind. Es fällt auch heute auf die Menschen, die in unserer
Gesellschaft unsichtbar gemacht werden. Es fällt auf die Menschen in den Krisengebieten
der Erde, auch dann, wenn sie nicht in unseren Schlagzeilen auftauchen.
5. So und nicht anders. Die Evangelien zeigen uns Jesus als öffentliche Person. Er beruft Menschen in seine Nachfolge, die mit ihm zusammen seine Botschaft weitertragen. "Menschenfischer" sollen sie
sein, ein weites Netz sollen sie knüpfen von Personen, die sich von der Botschaft Jesu
gefangennehmen lassen. Sehr unbefriedigend in unserem Medienzeitalter. PR-Experten und
Soziologen würden Jesus zu anderen Öffentlichkeitskampagnen raten, als das Schicksal
seiner Botschaft in die Hand einer Schar persönlich Überzeugter zu legen. Die Evangelien
sind nicht naiv: Sie wissen, dass einer ihn verraten, Petrus ihn verleugnen, die Jünger ihn
verlassen werden. Doch für die Evangelien ist das alles Entscheidende: Die Botschaft von
der nahen Herrschaft Gottes kann nicht anders weitergegeben werden als im Zeugnis des
Lebens von Menschen. Gottes Licht strahlt nicht anders im Dunkeln als durch die Lebenslichter, die wir Menschen entzünden und weitergeben. Was immer kirchliche Traditionsbildung und Institutionalisierung versuchten, um der Bewegung Jesu geschichtliche Dauer
zu verleihen: Das Feuer, das in ihr brennt, nährt und entfacht sich im Zeugnis des Lebens
von Menschen. Für mich eine offene Frage für das begonnene Jahr: Wie wir durch unseren
Glauben und unser Leben Jesus eine "öffentliche Person" bleiben lassen. "Das Volk, das im
Dunkel lebte, hat ein helles Licht gesehen; denen, die im Schattenreich des Todes wohnten,
ist ein Licht erschienen."
Die zweite Abbildung zeigt Edvard Munchs 1900 entstandenes Gemälde "Golgota". Die erste Abbildung ist eine Computerbearbeitung dieses Bildes.
Der Abschnitt aus dem Mattäusevangelium Kapitel 4,12-23 ist nach dem dreijährigen Lesezyklus der katholischen Kirche die Evangelienlesung für den 3. Sonntag im Jahreskreis A.
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