Angst haben





Numeri 21,4-9:4 Die Israeliten brachen vom Berg Hor auf und schlugen die Richtung zum Schilfmeer ein, um Edom zu umgehen. Unterwegs aber verlor das Volk den Mut, 5 es lehnte sich gegen Gott und gegen Mose auf und sagte: Warum habt ihr uns aus Ägypten heraufgeführt? Etwa damit wir in der Wüste sterben? Es gibt weder Brot noch Wasser. Dieser elenden Nahrung sind wir überdrüssig. 6 Da schickte der Herr Giftschlangen unter das Volk. Sie bissen die Menschen, und viele Israeliten starben. 7 Die Leute kamen zu Mose und sagten: Wir haben gesündigt, denn wir haben uns gegen den Herrn und gegen dich aufgelehnt. Bete zum Herrn, daß er uns von den Schlangen befreit. Da betete Mose für das Volk. 8  Der Herr antwortete Mose: Mach dir eine Schlange, und häng sie an einer Fahnenstange auf! Jeder, der gebissen wird, wird am Leben bleiben, wenn er sie ansieht. 9 Mose machte also eine Schlange aus Kupfer und hängte sie an einer Fahnenstange auf. Wenn nun jemand von einer Schlange gebissen wurde und zu der Kupferschlange aufblickte, blieb er am Leben.

Johannesevangelium 3,14-21: 14 Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muß der Menschensohn erhöht werden, 15 damit jeder, der glaubt, in ihm das ewige Leben hat. 16 Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat. 17 Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird. 18 Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er an den Namen des einzigen Sohnes Gottes nicht geglaubt hat. 19 Denn mit dem Gericht verhält es sich so: Das Licht kam in die Welt, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Taten waren böse. 20 Jeder, der Böses tut, haßt das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden. 21 Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, daß seine Taten in Gott vollbracht sind.


Stationen: Wo Hilfe nicht mehr helfen kann / Der Blick auf die Ängste / Die Entmachtung der Angst / Die Krise und das Leben danach / Gottes Ohnmacht / Unsere Möglichkeit

(1) Wo Hilfe nicht mehr helfen kann. "Literatur als Therapie", versehen mit einem Fragezeichen, waren die Frankfurter Poetik-Vorlesungen des Schweizer Autors Adolf Muschg (Adolf Muschg, Literatur als Therapie? Ein Exkurs über das Heilsame und das Unheilbare. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt am Main 1981) überschrieben:
"Die Kunst hilft nicht, aber sie ist da, wo uns nicht mehr zu helfen ist; wo Hilfe nicht mehr helfen kann, nur noch Dasein."
Wie kaum eine andere Schrift des Neuen Testamentes zeichnet das Johannesevangelium Jesus als Therapeuten. Angst und Krise, Finsternis und Licht, etwas, das Heilung und Leben verspricht: Stichwörter, aus dem Evangelium und zugleich aus dem Wörterbuch der Therapieversuche. "Jeder, der glaubt, wird nicht zugrunde gehen, sondern das Leben haben." Ein selbstbewußter Satz. Die Situation, in die das Evangelium diesen Satz spricht, ist das Dunkel des Mißtrauens und der Angst. Wie hilft der Glaube aus der Angst? Läßt sich vom Glauben sagen, was der Schweizer Dichter von der Kunst sagt: Der Glaube hilft nicht, aber er ist da, wo Hilfe nicht mehr helfen kann?

(2) Der Blick auf die Ängste. "Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat", so beginnt die Evangelienlesung. Damit ist angespielt auf eine Geschichte aus der hebräischen Bibel. Die Gemeinde Israel, im Auftrag Gottes von Mose aus der ägyptischen Sklaverei befreit, ist jetzt in der Wüste. Da kehrt sich die Erfahrung der Freiheit um in ein tiefes Gefühl der Angst und des Mißtrauens: "Warum habt ihr uns aus Ägypten heraufgeführt?" so fragen die Menschen Gott und Mose, "etwa, damit wir in der Wüste sterben?" In ihrer Angst tritt ein, was sie befürchten: Viele werden von Giftschlangen gebissen und sterben. Was diese alte Geschichte erzählen will: Ich kann es nachvollziehen. Ich kenne die Erfahrung, daß eine Angst, eine Unsicherheit, ein Mißtrauen sich ausbreitet. Daß ein tödlicher Kreislauf entsteht. Eine Angst macht, daß ich mich vom Leben zurückziehe, mit dem Resultat, daß das Leben sich von mir zurückzieht. Was kann da helfen? Die Geschichte aus der hebräischen Bibel hat eine merkwürdige Lösung. Mose soll im Auftrag Gottes eine Schlange aus Kupfer machen. "Und jeder, der gebissen wird", so heißt es in der Bibel, "wird am Leben bleiben, wenn er sie ansieht." Rettung in der Situation der Angst, so sagt uns die Erzählung, liegt nicht in der Flucht. Auch nicht in nach außen getragener Gewalt. Heilung geschieht vielmehr, wo man der Gestalt der Angst ins Auge blickt. Die Schlange aus Kupfer wird zum "therapeutischen Zeichen". Sie hilft, das, wovor man sich fürchtet, anzuschauen. Ziel ist, in eine heilsame Krise zu geraten. Die Krise offenbart die Wurzel des Übels: nicht die Schlangen, sondern die Angst vor dem Leben. Das Mißtrauen, daß Gott es vielleicht doch nicht gut mit den Menschen meint.

(3) Die Entmachtung der Angst. "So wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muß der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der glaubt, in ihm das ewige Leben hat." Der erhöhte Menschensohn, das ist kein anderer als Jesus am Kreuz. Der Schmerzensmann, gefoltert und hingerichtet. Ihn hat Gott gesandt, um Heilung zu bringen. Jesus am Kreuz: Das ist - wie die Schlange aus Kupfer - Gottes therapeutisches Zeichen. Wir müssen die Übermalung dieses Bildes wegräumen und wieder sehen, was da zu sehen ist: ein Mann unter tödlicher Folter. Dann wird Jesus zum Bild unserer Angst. Unserer Angst, im Leben zu scheitern. Unserer Angst, wie wir standhalten könnten im Schmerz und im Tod. Jesus am Kreuz anschauen: Das kann uns in eine heilsame Krise führen, zur Wurzel unserer Übel. Zum Mißtrauen, daß Gott es am Ende doch nicht gut mit uns meint. Wer durch diese Krise zum Glauben findet, über den verliert die Angst ihre Macht: "So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das Leben hat."

(4) Die Krise und das Leben danach. Das Johannesevangelium predigt von Gottes Liebe, und das ist gut so. Denn Angst vor Gott ist kein Weg zum Glauben. Und trotzdem redet auch das Johannesevangelium vom Gericht. Aber mit einem Satz streicht der Schreiber dieses Evangeliums die apokalyptischen Bilder durch, die wir aus anderen Stellen der Bibel kennen und die uns manchmal angst machen. Hier, in diesem Evangelium, ist keine Rede von Heulen und Zähneknirschen und künftigen Strafen: "Wer glaubt, wird nicht gerichtet. Wer nicht glaubt, der ist schon gerichtet." Das heißt: Gott verhängt keine Strafe. Der Unglaube spricht sich selbst das Gericht. Der Verlust des Vertrauens bestraft sich selbst. Und mit einem Satz streicht der Schreiber dieses Evangeliums auch unser mögliches Mißverständnis durch, was das "ewige Leben" sei. Ewiges Leben beginnt nicht nach dem Tod, sondern nach der Angst. Ewiges Leben beginnt, wo ein Mensch Gott vertraut: mehr als seiner Angst vor dem Leben, ja mehr als seiner Angst vor Gott. Ewiges Leben hat keinen anderen Inhalt als der Glaube selbst. "Das ist das ewige Leben", so heißt es an anderer Stelle im Evangelium, "daß die Menschen dich erkennen, den einzigen wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesus Christus" (Johannesevangelium 17,3). Gott erkennen, im Gesicht des Nächsten das Antlitz Jesu erkennen: Solche Erkenntnis ist nicht immer in Begleitung eines kirchlichen Bekenntnisses. Sie kann geschehen selbst ohne Kenntnis der religiösen Wörterbücher.

(5) Gottes Ohnmacht. Die protestantische Theologin Dorothee Sölle überliefert einen kleinen Wortwechsel: In einer Diskussion, so schreibt sie, hat mich einmal eine junge Frau gefragt: "Ist mit dem Tod für Sie alles aus?" Ich habe gesagt: "Wenn Sie für sich selber alles sind, dann ist für Sie mit dem Tod alles aus." Wer für sich selber alles ist, für den ist Liebe vielleicht ein Zeitvertreib, aber keine Seligkeit, schon gar keine ewige. Das Evangelium redet manchmal sehr ernst. Und zwar deswegen, weil es in der Predigt vom Gericht nicht um die Macht, sondern um die Ohnmacht Gottes geht. Gottes Macht ist zwar erfinderisch, und die ganze Schöpfung legt davon Zeugnis ab. Aber Gottes Macht ist hilflos, wenn ein Mensch für sich selber alles sein wollte. Gott kann für uns den Himmel seiner Seligkeit mit den Sternen seiner Liebe ausschmücken - und Gott wird das tun. Aber wessen Herz sich davor verschließen wollte, anderes als sich selbst zu sehen, der würde mitten in diesem Himmel im Finstern sein.

(6) Unsere Möglichkeit. Vielerorts lebt die mittelalterliche Sitte wieder auf, in der Zeit vor Ostern, der Fastenzeit, die Kreuze der Kirchen mit Tüchern zu verhüllen. Die Augen sollen "fasten": Kunst, sagt Adolf Muschg,

"spielt nur durch ihre Existenz mit unserer Existenz und leuchtet uns ein mit der Wirklichkeit ihrer Möglichkeit".
Der verhüllte Gekreuzigte kann uns anregen, die sorgsam oder hastig eingewickelten Ängste unseres Lebens anschauen zu lernen. Und in der Wirklichkeit des Gottvertrauens Jesu die Möglichkeit unseres eigenen Lebens zu erkennen. Die Möglichkeit, daß wir die Ängste unseres Lebens hineinfallen lassen in das Vertrauen auf Gott. Wem das "einleuchtet", dem leuchtet das Leben auf. Das ewige Leben.

Der Abschnitt Joh 3,14-21 ist nach dem dreijährigen Lesezyklus der katholischen Kirche die Evangelienlesung für den vierten Fastensonntag des Lesejahres B.


Schreiben Sie an u.sander@predigthilfe.de

© www.ulrichsander.de 2001