Wunsch-Denken





Numeri 6,23-27: Der Herr sprach zu Mose: 23 Sag zu Aaron und seinen Söhnen: So sollt ihr die Israeliten segnen; sprecht zu ihnen: 24 Der Herr segne dich und behüte dich. 25 Der Herr lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig. 26 Der Herr wende sein Angesicht dir zu und schenke dir Heil. 27 So sollen sie meinen Namen auf die Israeliten legen, und ich werde sie segnen.


Stationen: Allmacht der Gedanken? / Ein Versprechen / Gottes Wohlwollen / Mitten in der Angst / Ein Neujahrswunsch

(1) Allmacht der Gedanken? Von Sigmund Freud ist ein merkwürdiger Glückwunsch-Brief hinterlassen. In diesem Brief schreibt Freud an den Adressaten: "Wenn ich einen Rest von Glauben an die Allmacht der Gedanken bewahrt hätte, würde ich jetzt nicht versäumen, Ihnen die stärksten und herzlichsten Glückwünsche für die zu erwartende Folge von Jahren zuzuschicken. Ich überlasse dies törichte Tun der unübersehbaren Schar von Zeitgenossen, die Ihrer gedenken werden." In der vergangenen Silvesternacht und in den ersten Tagen des neuen Jahres habe ich etlichen Menschen gute Wünsche gesagt. Gehöre ich damit zu der Schar von "törichten Zeitgenossen", wie Freud sie nennt? Hält an einem kindischen Glauben an die "Allmacht der Gedanken" fest, wer anderen Glück wünscht und Gottes Segen zusagt?

(2) Ein Versprechen. Ich bin überzeugt, unsere guten Wünsche füreinander können mehr sein als ein bloßes Wunsch-Denken, das lediglich in der euphorischen Sektlaune einer "Millenniumswende" gedeihen kann. Zunächst einmal geht es ja um uns selbst, wenn wir anderen Menschen Glück und Segen wünschen. Ich gebe ihnen damit mein Wort, daß ich selbst ihrem Glück nicht im Wege stehen will. Je aufrichtiger meine guten Wünsche gemeint sind, um so mehr enthalten sie auch ein Versprechen meinerseits. "Ich wünsche dir ein gutes neues Jahr" - das kann dann heißen: "Ich verspreche dir, daß ich es auch im neuen Jahr gut mit dir meine. Ich möchte das Meine dazu beitragen, daß es für dich ein glückliches Jahr wird." Wer in dieser Weise ehrlich anderen Glück und Segen wünscht, der verspricht, selbst für das Glück des anderen einzutreten. Ein solches Versprechen können wir nicht erzwingen. Ich kann wohl darauf setzen, daß andere Menschen gerecht mit mir umgehen und mir nicht absichtlich schaden. Darauf haben wir ein Recht, und notfalls können wir mithilfe der Rechtsordnung und des Staates versuchen durchsetzen, daß unsere Rechte respektiert werden - Gott sei Dank. Für das Wohlwollen aber, das wir einander in unseren Glück- und Segenswünschen versprechen, gibt es keinen Rechtsanspruch. Ich kann es nicht erzwingen, daß ein anderer es wirklich gut mit mir meint. Und doch: Wie sehr bin ich darauf angewiesen, daß andere Menschen mich in ihr Herz geschlossen haben. Selbst dort, wo mit ihren guten Wünschen kaum eine konkrete Hilfe verbunden sein kann, fördern sie mein Leben. Der Verlust eines Menschen durch einen endgültigen Abschied oder eine Krankheit, für die es keine Heilung gibt, sind nur zugespitzte Beispiele für Situationen, die andere durch ihr Handeln kaum verändern können. Und doch hängt viel davon ab, ob ich solche Situationen allein durchstehen muß oder ob andere Menschen mit guten Wünschen mir nahe sind.

(3) Gottes Wohlwollen. Das Wohlwollen der anderen - es bleibt ein Geschenk, zu dem ich niemanden zwingen kann und das ich doch zum Leben bitter nötig habe. Dieses Wohlwollen nennt die Bibel im Blick auf Gott Gnade. Gnade bedeutet Gottes Wohlwollen, auf das wir keinen Rechtsanspruch haben und das wir doch zum Leben brauchen. Die Bibel weiß: Es reicht nicht aus, daß wir Menschen einander gut sein wollen. Auch Gott soll es gut mit uns meinen. Deshalb wünschen wir uns nicht nur Glück, sondern auch Gottes Segen. "Glück und Segen wünsche ich dir im neuen Jahr" - das heißt: "Ich meine es gut mit dir, und auch Gott soll es gut mit dir meinen." Gott hat uns ja dieses Wohlwollen versprochen. Er selbst ordnet nach dem Zeugnis der Hebräischen Bibel an, daß in seinem Namen gesegnet werde: "So sollt ihr die Israeliten segnen - spricht der Herr: Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig. Der Herr wende sein Angesicht dir zu und schenke dir Heil." Was dieser Segen verspricht - Schutz, Gnade und Heil -, das will Gott selbst wahrmachen: "Ihr sollt meinen Namen auf die Israeliten legen, und ich werde sie segnen." Wenn wir einander Glück wünschen, machen wir aus uns keine "törichten Zeitgenossen". Vielmehr versprechen wir damit, es gut miteinander zu meinen. Wenn wir Gottes Segen einander zusagen, so nicht aus dem kindischen Glauben an die Allmacht frommer Gedanken, sondern aus dem Glauben an die Allmacht Gottes. Ein verdächtiges Wort? Gottes Allmacht, so wie sie die Bibel verkündet, hat wenig zu tun mit unserem Wunsch-Denken. Gottes Allmacht bedeutet: Gott ist der Eine, der in allem mächtig ist. Gott bleibt - auch wenn er uns segnet - ein verborgener Gott, dessen Liebe zu uns wir nicht daran ablesen können, ob uns Glück oder Unglück trifft.

(4) Mitten in der Angst. Von dem protestantischen Pfarrer Dietrich Bonhoeffer stammt ein Gedicht, das oft zu Neujahrsbeginn zitiert wird: "Von guten Mächten still und treu umgeben, behütet und getröstet wunderbar, so will ich diese Tage mit euch leben und mit euch mit euch gehen in ein neues Jahr." Bonhoeffer schrieb dieses Gedicht nicht aus der Fülle persönlichen oder beruflichen Glücks heraus. Die Zeilen entstanden in der Gefangenschaft der Gestapo Hitlers zum Silvesterabend 1944. Die Kontakte zu seiner Familie waren fast ganz unterbrochen worden, Bonhoeffer wartete auf das Todesurteil. Vier Monate später, Anfang April 1945, wurde er erhängt. Ich schrecke zurück vor der Größe eines solchen Zeugnisses, wenn ich auf meinen kleinen Glauben schauen. Aber mein Glaube braucht Menschen wie Dietrich Bonhoeffer: Zeugen dafür, daß Gottes Wohlwollen mich begleitet in allem, was geschieht. Zeugen für einen Glauben an Gottes Segen, der kein Wunschdenken ist, sondern ein unbezwingbares Vertrauen mitten in der Angst vor dem, was ist, und dem, was kommt.

(5) Ein Neujahrswunsch. Das Jahr 2000 hat begonnen. Ich weiß nicht, was es für mein und Ihr persönliches Leben und für das Leben der Völker an Glück und Unheil bereithält. Ich möchte darauf vertrauen, daß Gott uns mit seinem Wohlwollen nahe ist. In allem, was geschieht. Aus diesem Vertrauen heraus können Menschen auch einander versprechen, es in der kommenden Zeit gut miteinander zu meinen und einander zu begleiten, auch im Leid. Ich wünsche Ihnen ein gutes und gesegnetes neues Jahr.

Guter Gott,
du breitest das Leben vor uns aus.
Manchmal wie ein weites Tal oder eine große Sommerwiese,
in die wir hineinrennen und uns fallen lassen möchten.
Manchmal wie eine unbekannte Häuserschlucht,
Straßen voller Abbiegungen, die wir nicht kennen.
Manchmal könnten wir weinen,
und manchmal fühlen wir uns geborgen und beschützt.
Laß uns nicht einfrieren, Gott,
nicht stehenbleiben,
nicht davonlaufen vor dem Leben.
Laß uns einander beistehen,
daß wir einer dem anderen nahe sein können,
ohne uns weh zu tun.
Laß uns darauf vertrauen,
daß du bei uns bist und uns segnest.

Gott segne euch und behüte euch.
Gott schaue euch an wie ein freundliches Licht.
Gott halte euer Leben beschützt und im Frieden.
Das schenke uns Gott, der in allem mächtig ist:
der Vater und der Sohn und der Heilige Geist.


Der Abschnitt Numeri 6,23-27 ist nach dem Lesezyklus der katholischen Kirche die alttestamentliche Lesung für den Neujahrstag.


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