Leer, aber kein Grab





Exodus 25,8.10.18-22 8 Macht mir ein Heiligtum! Dann werde ich in ihrer Mitte wohnen. 10 Macht eine Lade aus Akazienholz, zweieinhalb Ellen lang, anderthalb Ellen breit und anderthalb Ellen hoch. 18 Mache zwei Cheruben, aus Gold, in Hämmerkunst sollst du sie machen, aus den Enden der Deckplatte hervor. 19 Mache einen Cherub aus dem einen Ende und einen Cherub aus dem anderen Ende, aus der Deckplatte hervor macht die Cheruben an den beiden Enden. 20 Und die Cheruben sollen die Flügel ausbreiten nach oben, mit ihren Flügeln schirmend über der Deckplatte, das Gesicht jeder zum Bruder; nach der Deckplatte hin sollen die Gesichter der Cheruben sein. 21 Die Deckplatte sollst du über die Lade geben oben auf. Und in die Lade wirst du geben die Bundesurkunde, die ich dir gebe. 22 Dort werde ich dir begegnen, ich werde mit dir reden von über der Deckplatte, von zwischen den beiden Cheruben her, die über der Lade der Bundesurkunde sind, alles was ich dir für die Israeliten auftragen werde.

Johannesevangelium 16,5-11: 5 Jetzt gehe ich zu dem, der mich gesandt hat, und keiner von euch fragt mich: Wohin gehst du? 6 Vielmehr ist euer Herz von Trauer erfüllt, weil ich euch das gesagt habe. 7 Doch ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, daß ich fortgehe. Denn wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen; gehe ich aber, so werde ich ihn zu euch senden. 8 Und wenn er kommt, wird er die Welt überführen: was Sünde, Gerechtigkeit und Gericht ist. 9 Sünde: Sie glauben nicht an mich. 10 Gerechtigkeit: Ich gehe zum Vater, und ihr seht mich nicht mehr. 11 Gericht: Der Herrscher dieser Welt ist gerichtet.


Stationen: Erinnern und Erzählen / Der Faden der Geschichte / Der Raum der Erzählung / Der leere Thron / Das leere Grab

(1) Erinnern und Erzählen. "Ich gehe zum Vater, und ihr seht mich nicht mehr." Ostern ist das erste Fest, das die junge Jesus-Gemeinde vor fast zweitausend Jahren gefeiert hat. Alle Feste des kirchlichen Kalenders haben in ihm letzten Endes ihre Wurzeln. Sein eigener Ursprung ist ein jüdisches Fest: Pessach, das Paschafest. Jüdische Feste sind Feste der Erinnerung und des Erzählens. Sie erinnern Abschiede und erzählen vom Neubeginn. Das jüdische Osterfest hat das Datum des Frühlingsvollmonds. Aber es feiert nicht einfach, daß der Winter vergeht und es wieder einmal Frühling wird und "das Leben" wiederkehrt. Im Mittelpunkt von Pessach steht ein nächtliches Mahl, zu dem sich eine Hausgemeinschaft aus Familie und Freunden versammelt. Der Jüngste in der Runde hat traditionell die Frage zu stellen: "Warum ist diese Nacht anders als die anderen Nächte?" Und dann wird ihm geantwortet, indem eine Geschichte erinnert wird: Sie erzählt, wie eine Handvoll Sklaven unter den Pharaonen in Ägypten gelitten hat und wie sie aus der Knechtschaft ausbrachen. Wie sie einen schwierigen Weg durch die Wüste Sinai gingen, auf dem viele ums Lebens kamen. Wie schließlich die neue Generation in ein Land kam, in dem sie leben und bleiben konnten. Und die Geschichte erzählt: Das alles hat "Gott" an uns getan. So ist es in der Bibel überliefert: Gott spricht zu Mose: "Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land" (Exodus 3,7-8).

(2) Der Faden der Geschichte. Die Rabbinen, die Weisen des Judentums, sagen: Jede Generation hat diese Geschichte so zu erzählen, als habe Gott sie selbst aus Ägypten geführt. In der Pessach-Haggada, der Hausliturgie für das jüdische Osterfest, heißt es deshalb:

"In allen Zeitaltern ist jeder verpflichtet, sich zu betrachten, als ob er gleichsam selbst aus Ägypten gegangen wäre. Nicht unsere Väter nur hat der Heilige, gelobt sei Er, erlöst, sondern auch uns mit ihnen."
Jede Generation hat ihre eigenen Geschichten, ihre Abschiede und ihren Neubeginn, ihre Klagen und ihre Tränen hineinzuerzählen in die Geschichte der Rettung. So werden in den alten selben Bildern die unverwechselbaren Erfahrungen jedes einzelnen neu erzählt. So wächst die Geschichte durch die Zeiten hindurch. Abreißen soll diese Erzählung nicht. Denn anders läßt sich nicht sagen, wer "Gott" ist, außer diese Geschichte und in ihr das eigene Leben zu erzählen.

(3) Der Raum der Erzählung. Auch die Jüngerinnen und Jünger Jesu haben an Ostern eine Geschichte zu erzählen, eine neue Geschichte. Von ihrer Hoffnung, die mit Jesus verbunden war. Von dem Weg, auf den er sie mitgenommen hatte. Für sie hat sich das Wort Gottes aus der Exodusgeschichte im Leben Jesu erfüllt: "Ich bin herabgestiegen" (Exodus 3,8). Aber auch von dem Tod Jesu, der hingerichtet und zum Schweigen gebracht worden war. War seine Geschichte - war ihre Geschichte mit ihm durch seinen Tod gescheitert? Der Glaube sagt: Gott hat Jesus durch den Tod hindurch die Treue gehalten. Sein Abschied aus dem Leben ist ein Heimgang zum Vater. Ostern, Auferweckung, das "leere Grab": Die Bilder stehen für einen Neubeginn der Jüngerinnen und Jünger Jesu: Jesus nicht mehr bei den Toten zu suchen. So erzählen sie jetzt die Geschichte seines Todes als eine Geschichte der Rettung. Und sie erzählen ihre eigene Geschichte in die Geschichte Jesu hinein. "Es ist gut für euch, daß ich gehe" (Johannesevangelium 16,7): Diese Worte Jesu spiegeln die besondere Erfahrung der Jünger wider: Gott ist in Jesus "herabgestiegen". Aber nicht, um wie ein Götze einen Raum in dieser Welt zu besetzen, zu beanspruchen, auszufüllen. Sondern um einen Raum zu eröffnen, in dem unsere eigene Geschichte geschehen und lebendig werden kann: einen Raum der Erzählung. Deshalb "mußte" Jesus sterben, deshalb sind wir "durch seinen Tod" erlöst: "Es ist gut für euch, daß ich gehe."

(4) Der leere Thron. "Ich bin herabgestiegen": Die jüdische Tradition hat sich gefragt, wohin genau Gott denn hinabgestiegen ist. Und sie findet eine Antwort in der Erzählung der Bibel vom Zimmern der Bundeslade, in der das Wort Gottes vom Sinai zum Heiligtum des Gottesvolkes wird. Die Bibel erzählt: Nach der Befreiung aus Ägypten hat Mose die Sklaven an den Berg Sinai geführt. Hier hat Gott dem Volk eine neue Lebensordnung gegeben, gehauen auf Tafeln aus Stein. Diese Steintafeln, die Urkunde seines Bundes, sollten in einem tragbaren Behälter das Volk auf dem Weg durch die Wüste begleiten: die Bundeslade. Der Deckel dieser Bundeslade war der "Thron Gottes", gehalten von zwei Engelsfiguren, den Cheruben, deren Flügel sich über die Deckplatte ausbreiteten. Kein Götzenbild also in der Mitte des Heiligtums, sondern ein "leerer Thron": "Von hier aus," spricht Gott, "von der Deckplatte aus zwischen den Engeln, die auf der Lade stehen, will ich dir begegnen" (Exodus 25,22). Die jüdische Tradition sagt: Diese Flügel der Engel sind einander so nah, daß sie sich fast berühren. So klein muß Gott werden, daß Gott durch diesen schmalen Spalt hindurch kommen kann, um auf der leeren Deckplatte zu wohnen. Das ist das "Sichzusammenziehen" Gottes. Im Neuen Testament spricht Paulus davon, daß Jesus in seinem Tod am Kreuz zu dieser Deckplatte des Thrones Gottes geworden ist: "Ihn hat Gott öffentlich hingestellt als Deckplatte für den Glauben durch seinen Foltertod" (Römerbrief 3,25). Das ist die Erfahrung von Ostern: Jesus war der Ort, an dem Gott sich so klein gemacht hat, daß er hinabgestiegen ist. Nicht, um uns wie ein Götze zu beherrschen, sondern um ein "leerer Thron" zu sein.

(5) Das leere Grab. Ostern ist unsere Chance, den Abschied Jesu und die "Abwesenheit" Gottes nicht als Verlust und Enttäuschung zu begreifen. Es liegt etwas Verführerisches in der Vorstellung, einen Gott zu haben, der sichtbarer und greifbarer in unserem Leben erschiene. Das könnte in Situationen der Angst und des Leidens auf den ersten Blick sehr tröstlich sein: einen verfügbar anwesenden Gott zu haben. Dieser Verführung ist auch die Kirche oft genug erlegen. Ein verfügbarer Gott heißt aber auch: Aus der neuen Lebensordnung Gottes, den Tafeln des Bundes, werden Verbote und Gebote, die den Raum des Lebens nicht eröffnen, sondern begrenzen, vielleicht ausgrenzen. Aber: Der anwesende Gott ist nicht verfügbar, der Thronsitz Gottes über den Bundestafeln ist "leer". Leer wie das Grab Jesu. Ich wünsche mir zu entdecken, daß diese Leere voll von Verheißung sein kann:

"Es ist gut für euch, daß ich gehe. Denn wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen; gehe ich aber, so werde ich ihn zu euch senden."
Eine Leere, die uns Raum gibt, unsere Geschichten zu leben und zu erzählen. In der Hoffnung, daß Gott sie weiter- und zu Ende erzählt, so wie nicht das Gericht noch die Folterknechte, sondern Gott die Geschichte Jesu zu Ende erzählen wird.

Der Abschnitt aus dem Johannesevangelium, Kapitel 16, Verse 5-11 ist nach der Leseordnung der katholischen Kirche die Evangelienlesung für den Dienstag der sechsten Osterwoche.




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