(2) Der Faden der Geschichte. Die Rabbinen, die Weisen des Judentums, sagen: Jede Generation hat diese Geschichte so zu erzählen, als habe Gott sie selbst aus Ägypten geführt. In der Pessach-Haggada, der Hausliturgie für das jüdische Osterfest, heißt es deshalb:
(3) Der Raum der Erzählung. Auch die Jüngerinnen und Jünger Jesu haben an Ostern eine Geschichte zu erzählen, eine neue Geschichte. Von ihrer Hoffnung, die mit Jesus verbunden war. Von dem Weg, auf den er sie mitgenommen hatte. Für sie hat sich das Wort Gottes aus der Exodusgeschichte im Leben Jesu erfüllt: "Ich bin herabgestiegen" (Exodus 3,8). Aber auch von dem Tod Jesu, der hingerichtet und zum Schweigen gebracht worden war. War seine Geschichte - war ihre Geschichte mit ihm durch seinen Tod gescheitert? Der Glaube sagt: Gott hat Jesus durch den Tod hindurch die Treue gehalten. Sein Abschied aus dem Leben ist ein Heimgang zum Vater. Ostern, Auferweckung, das "leere Grab": Die Bilder stehen für einen Neubeginn der Jüngerinnen und Jünger Jesu: Jesus nicht mehr bei den Toten zu suchen. So erzählen sie jetzt die Geschichte seines Todes als eine Geschichte der Rettung. Und sie erzählen ihre eigene Geschichte in die Geschichte Jesu hinein. "Es ist gut für euch, daß ich gehe" (Johannesevangelium 16,7): Diese Worte Jesu spiegeln die besondere Erfahrung der Jünger wider: Gott ist in Jesus "herabgestiegen". Aber nicht, um wie ein Götze einen Raum in dieser Welt zu besetzen, zu beanspruchen, auszufüllen. Sondern um einen Raum zu eröffnen, in dem unsere eigene Geschichte geschehen und lebendig werden kann: einen Raum der Erzählung. Deshalb "mußte" Jesus sterben, deshalb sind wir "durch seinen Tod" erlöst: "Es ist gut für euch, daß ich gehe."
(4) Der leere Thron. "Ich bin herabgestiegen": Die jüdische Tradition hat sich gefragt, wohin genau Gott denn hinabgestiegen ist. Und sie findet eine Antwort in der Erzählung der Bibel vom Zimmern der Bundeslade, in der das Wort Gottes vom Sinai zum Heiligtum des Gottesvolkes wird. Die Bibel erzählt: Nach der Befreiung aus Ägypten hat Mose die Sklaven an den Berg Sinai geführt. Hier hat Gott dem Volk eine neue Lebensordnung gegeben, gehauen auf Tafeln aus Stein. Diese Steintafeln, die Urkunde seines Bundes, sollten in einem tragbaren Behälter das Volk auf dem Weg durch die Wüste begleiten: die Bundeslade. Der Deckel dieser Bundeslade war der "Thron Gottes", gehalten von zwei Engelsfiguren, den Cheruben, deren Flügel sich über die Deckplatte ausbreiteten. Kein Götzenbild also in der Mitte des Heiligtums, sondern ein "leerer Thron": "Von hier aus," spricht Gott, "von der Deckplatte aus zwischen den Engeln, die auf der Lade stehen, will ich dir begegnen" (Exodus 25,22). Die jüdische Tradition sagt: Diese Flügel der Engel sind einander so nah, daß sie sich fast berühren. So klein muß Gott werden, daß Gott durch diesen schmalen Spalt hindurch kommen kann, um auf der leeren Deckplatte zu wohnen. Das ist das "Sichzusammenziehen" Gottes. Im Neuen Testament spricht Paulus davon, daß Jesus in seinem Tod am Kreuz zu dieser Deckplatte des Thrones Gottes geworden ist: "Ihn hat Gott öffentlich hingestellt als Deckplatte für den Glauben durch seinen Foltertod" (Römerbrief 3,25). Das ist die Erfahrung von Ostern: Jesus war der Ort, an dem Gott sich so klein gemacht hat, daß er hinabgestiegen ist. Nicht, um uns wie ein Götze zu beherrschen, sondern um ein "leerer Thron" zu sein.
(5) Das leere Grab. Ostern ist unsere Chance, den Abschied Jesu und die "Abwesenheit" Gottes nicht als Verlust und Enttäuschung zu begreifen. Es liegt etwas Verführerisches in der Vorstellung, einen Gott zu haben, der sichtbarer und greifbarer in unserem Leben erschiene. Das könnte in Situationen der Angst und des Leidens auf den ersten Blick sehr tröstlich sein: einen verfügbar anwesenden Gott zu haben. Dieser Verführung ist auch die Kirche oft genug erlegen. Ein verfügbarer Gott heißt aber auch: Aus der neuen Lebensordnung Gottes, den Tafeln des Bundes, werden Verbote und Gebote, die den Raum des Lebens nicht eröffnen, sondern begrenzen, vielleicht ausgrenzen. Aber: Der anwesende Gott ist nicht verfügbar, der Thronsitz Gottes über den Bundestafeln ist "leer". Leer wie das Grab Jesu. Ich wünsche mir zu entdecken, daß diese Leere voll von Verheißung sein kann:
Der Abschnitt aus dem Johannesevangelium, Kapitel 16, Verse 5-11 ist nach der Leseordnung der katholischen Kirche die Evangelienlesung für den Dienstag der sechsten Osterwoche.
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