1. Irritierter Jesus. Es sei offen zugegeben: Die Geschichte von der Begegnung Jesu mit der
"heidnischen (das heißt nichtjüdischen) Frau" ist ein unbequemer biblischer Text. Eine
irritierende Geschichte. Jesus verläßt Galiläa und betritt ein Gebiet, das überwiegend von
Nicht-Juden besiedelt ist. Auch dorthin ist ihm sein Ruf vorausgeeilt. Da kommt eine Frau,
eine Mutter, die über der Krankheit ihrer kleinen Tochter verzweifelt ist, zu ihm. Sie bittet
um Hilfe, er aber versucht sie abzuweisen. "Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des
Hauses Israel gesandt." Da scheint kein Platz zu sein für die konkrete Not eines konkreten
Menschen: "Es ist nicht recht", so das harte Wort Jesu, "den Kindern das Brot wegzunehmen
und es den Hunden vorzuwerfen." Eine irritierende Geschichte. Aber sie ist mit diesem Wort
nicht zu Ende.
2. Eine hartnäckige Frau. Die Mutter kämpft weiter für ihre Tochter: "Ja, du hast recht,
Herr! Aber auch für die Hunde unter dem Tisch fällt etwas von dem Brot ab, das die Kinder
essen." Die Antwort ist schlagfertig. Sie ist unterwürfig, aber geschickt. Auf den ersten Blick
macht sich die Frau selbst klein und paßt sich in das Weltbild Jesu ein. Auf den ersten Blick
fordert sie nicht etwa gleiches Recht, sie besteht nur auf einem Almosen. Und Jesus?
Provozierend gesagt: Die Geschichte zeigt uns Jesus als Lernenden in Sachen
Menschenrechte. Die Hartnäckigkeit dieser Frau hat ihn gepackt. Die Erfahrung geht in ihm
weiter.
3. Die Lerngeschichte Jesu. Vor der Begegnung mit der heidnischen Frau berichtet die
Erzählung des Evangeliums von der sogenannten ersten "Brotvermehrung":
Jesus ist in Galiläa und feiert mit den Menschen ein Mahl. Zwölf Körbe bleiben übrig. Zwölf
ist die Symbolzahl Israels: zwölf für die zwölf Stämme Israels.
Unmittelbar nach der Begegnung mit der nichtjüdischen Frau feiert Jesus ein zweites Mahl:
Für dieses zweite Mahl berichtet der Bibeltext davon, daß Jesus sich in der
Dekapolis aufhielt, einem Gebiet, das überwiegend von Nicht-Juden bewohnt war. Diesmal
bleiben sieben Körbe übrig. Sieben ist die Symbolzahl der Welt: drei für den Himmel, vier
für die Erde. Sieben, Symbolzahl nicht für Israel, sondern für die ganze Welt, Juden wie
Nicht-Juden. Jesus hat dazugelernt. "Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen" -
der Satz bekommt einen ganz neuen Sinn. Alle Menschen, nicht nur die Angehörigen des
jüdischen Volkes, sind Kinder am Tisch Gottes. Es ist nicht recht, ihnen das Brot
vorzuenthalten.
4. Eine lange Lerngeschichte. Vor mehr als einem einem halben Jahrhundert,
am 10. Dezember 1948, proklamierte die Vollversammlung der Vereinten Nationen die
"Allgemeine Erklärung der Menschenrechte":
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: hinter den Menschenrechten stehen die Schlagworte der Französischen Revolution. Die Idee der Menschenrechte hat eine lange Lerngeschichte hinter sich, und sie beginnt mit Kämpfen und Auseinandersetzungen: in der Unabhängigkeitserklärung der amerikanischen Kolonien, in der Erklärung der französischen Nationalversammlung am Beginn der Revolution:
"Wir halten folgende Wahrheiten für unbedingt einleuchtend: Alle Menschen sind gleich
geschaffen. Sie sind vom Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten begabt. Dazu
gehören das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück. Um diese Rechte zu
sichern, sind unter den Menschen Regierungen eingesetzt, diese wieder leiten ihre
Machtvollkommenheiten her von der Zustimmung der Regierten. Wenn immer eine
Regierungsform diese Zwecke gefährdet, ist es das Recht des Volkes, sie zu ändern oder
abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen"
(Aus der Unabhängigkeitserklärung der dreizehn amerikanischen Kolonien von
Großbritannien vom 4. Juli 1776).
Die Lerngeschichte der Menschenrechte hat ihre bitteren Stationen. In der Französischen
Revolution wurde die Idee der Menschenrechte mißbraucht, um ein Regime des Terrors
aufzurichten und Tausende, nicht zuletzt Tausende Katholiken, durch die Guillotine zu töten.
In der Geschichte der Vereinigten Staaten mußte man schmerzlich lernen, daß sich die Idee
der Menschenrechte nicht auf weiße Männer einschränken läßt: Sie gelten auch für Frauen,
sie gelten auch für die unterworfenen Ur-Einwohner, die "Indianer", sie gelten auch für die aus Afrika weggeführten und zu Sklaven gemachten Schwarzen.
5. Die Lerngeschichte der Kirche. Die Idee der Menschenrechte hat auch eine
Lerngeschichte in der Kirche. Heute, nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, haben sich die
Päpste zu Anwälten der Menschenrechte gemacht. Von den Menschenrechten sprechen
kirchliche Erklärungen und päpstliche Rundbriefe. Das ist gut so, aber das war nicht immer
so. Zur Zeit der Französischen Revolution haben sich Bischöfe und Papst gegen
Menschenrechte und Demokratie gestellt: für sie ein Aufstand gegen eine vermeintlich
gottgegebene Ordnung und gegen die Autorität von Staat und Kirche. Gerade das
Menschenrecht auf Religionsfreiheit war für die Päpste ein Angriff auf die Vorrechte der
katholischen Kirche. Erst das Zweite Vatikanische Konzil hat hier einen Schlußstrich
gezogen. Die Texte des Konzils formulieren die Lerngeschichte der Kirche:
Der Einsatz für die Menschenrechte ist Achtung vor dem Bild Gottes, das der Schöpfer in
jeden Menschen gelegt hat und das Gott in Jesus Christus erneuert hat. Mit jedem Menschen -
unabhängig von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, Überzeugung oder
Herkunft -, mit jedem einzelnen hat Gott sich verbunden:
6. Ganz oder gar nicht. Viele Katholikinnen und Katholiken spüren, daß diese
Lerngeschichte in der Kirche weitergehen muß. Aber nicht nur in der Kirche. Die
Menschenrechte, so wie sie vor zweihundert Jahren formuliert wurden, sind vor allem
Freiheitsrechte. Freiheit ist voraussetzungsreich: Sie braucht den Schutz des Lebens und
seiner materiellen Grundlagen. Die Frage ist brennend, und sie ist nicht gelöst: Was bedeuten
Menschenrechte in einer Welt, die gespalten ist in Nord und Süd, in eine kleine Zone des
Wohlstands und in einen großen Teil der Erde, in dem das Leben des einzelnen wenig zählt?
Mit der Abschottung Europas vor den Armutsflüchtlingen, mit Einschränkungen von Asyl-
und Aufenthaltsrechten für ökonomisch "Uninteressante" werden wir uns das Problem nicht
vom Leib schaffen können. Die Idee der Menschenrechte läßt sich nicht teilen:
Menschenrechte gelten oder sie gelten nicht. Sie werden auch für uns nicht lange gelten - für
unsere Armen und Kranken, unsere Ungeborenen und Alten - wenn wir nicht nach Wegen
suchen, sie für alle gelten zu lassen. Beeindruckt von den Möglichkeiten der neuen Bio- und
Gentechnologie, diskutieren Politiker und Wissenschaftler darüber, Menschenwürde und
Lebensrecht nicht mehr mit dem Beginn des menschlichen Lebens zu achten, weil
man sich von Tötung und Verbrauch menschlicher Embryonen medizintechnischen Nutzen
verspricht. Wohin führt die Lerngeschichte der Menschenrechte?
7. Irritation ist heilsam. In der Geschichte von der Begegnung Jesu mit der nichtjüdischen Frau zeigt das Markusevangelium Jesus als einen Lernenden. Das ist vielleicht irritierend, aber heilsam. Es könnte uns in unseren Selbstverständlichkeiten erschüttern. Und uns vor die Frage stellen, wo wir zu lernen und umzudenken haben, damit konkrete Menschen zu ihrem Recht kommen.
Nach der Leseordnung der katholischen Kirche werden die Verse 24-30 aus dem siebten Kapitel des Markusevangeliums am Donnerstag der fünften Woche im Jahreskreis gelesen.
Der Predigt liegen Gedanken zugrunde, die in "Geistliche Worte im weltlichen Kalender, hg. von Pfr. Gundula Kühneweg (Bergmoser und Höller Verlag Aachen) veröffentlicht wurden.
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