Was Gott in die Waagschale warf





Galaterbrief 4,4-7: 4 Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, 5 damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen. 6 Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! 7 So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott.



1. Eine eigentümliche Stimmung ruft alljährlich der Jahreswechsel in mir hervor. Wie viele andere Menschen auch, halte ich am Silvesterabend eine kleine Rückschau auf das vergangenen Jahr. Was bewahrt werden soll, wird in Gedanken in einer Kiste verstaut: Deckel drauf, beschriften: "Das war das Jahr 2001" ­ und ab ins Archiv der Erinnerung. Morgen beginnt etwas Neues, dafür muß Platz sein. Auf dieses Neue bin ich richtig gespannt.
Dann bricht das neue Jahr an - doch schon der Blick aus dem Fenster verrät: Die Natur erstrahlt nicht in einem neuen Glanz, sie sieht ganz genauso wie am Vortag aus. Die Nachrichten aus dem Radio klingen nicht erfreulicher als gestern. Die Welt ist die Gleiche geblieben. Nichts Neues also unter der Sonne und eine erste Ernüchterung für die guten Vorsätze. Trotzdem will das erwartungsfrohe Gefühl nicht kampflos der Alltagswirklichkeit weichen. Es ist ja Feiertag und ein guter Tag für Traumbilder. Beginnt denn nicht alles Neue mit einer Vision, die dazu befähigt, sich zuversichtlich auf Veränderung einzulassen?

2. Als Ermutigung, solch eine Veränderung bisher ungekannten Ausmaßes zu erkennen, und die darin geschenkte neue Qualität für das eigene Leben anzunehmen, empfinde ich die Worte des Paulus:

"Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott."
Der Apostel, der diese Sätze schrieb, hatte sie allerdings nicht als Mutmach-Worte zum Jahreswechsel gedacht. Vielmehr sollten durch sie uneinsichtige und fehlgeleitete Gemeindeglieder wieder auf den rechten Weg des Evangeliums gebracht werden. Unser Abschnitt ist dem Brief an die Galater entnommen, den der Apostel um das Jahr 54 nach Christus herum verfaßte, und in dem er mit dieser Gemeinde erst einmal ordentlich ins Gericht geht. Er beklagt ihre Abkehr vom Evangelium und warnt vor Irrlehrern, die Unruhe stiften. Paulus gibt sich alle Mühe, den wankelmütigen Mitgliedern der Gemeinde wieder die Freiheit vor Augen zu führen, zu der Christenmenschen berufen sind. Leidenschaftlich erklärt der Apostel:
"Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen und damit wir die Sohnschaft erlangen."

3. Wie gesagt, ursprünglich kein Votum zum Jahreswechsel und trotzdem dafür geeignet. Dieser Satz bezeugt, was Menschen bewegen kann, ihren Weg durch das neue Jahr mit Zuversicht, Mut und Dankbarkeit zu gehen.
"Als die Zeit erfüllt war"  - nicht kurz vor dem Weltuntergang, sondern als Gott nicht länger mit ansehen mochte, wie seine Menschen unablässig dabei waren, sich gegenseitig das Leben zur Hölle zu machen. Sie fanden aus diesem Teufelskreis ihrer Zwänge, ihrer Ängste und Schuld einfach nicht heraus. Wo seine himmlischen Gebote zur Freiheit helfen sollten, fertigte die Welt aus ihnen Fesseln des Todes. Wo Gott Leben bot, wählten die Menschen das Verderben - immer wieder. Um seine störrischen Geschöpfe nicht dem Tod zu überlassen, warf Gott seine ganze Liebe in die Waagschale und sandte seinen Sohn. Von einer Frau wurde er geboren - wie jeder Erdenbürger - und unter das Gesetz des Lebens gestellt. Er war uns gleich, einer von uns Sterblichen.
Warum kam er nicht mit dem Feuerwagen des Elija vom Himmel herab? Warum hat er nicht eindrucksvoll seine unbesiegbare Macht demonstriert? Die ganze Welt wäre ihm doch sofort untertan gewesen. So oder so ähnlich denken wir Menschen immer wieder einmal. Viel zu schnell erwacht in uns das unbedachte Verlangen nach dem starken Mann, der es für uns richten soll. Gott geht mit uns andere Wege, will uns in die Freiheit der Gotteskindschaft führen.

4. Wie aber lebt man als Gotteskind? Wir sind ja so ungeübt und im Glauben nicht weniger wankelmütig, als es die Galater waren. Fest steht, der Machtvolle im Feuerwagen hätte uns darin kein echtes Vorbild sein können, er wäre zu verschieden von uns. Ganz anders der Sohn, der in die Widrigkeiten der Welt hineingeboren wurde, von vornherein ihr ausgeliefert - und doch nicht an sie gebunden, sondern bereit, aus einer innigen Gottesbeziehung heraus zu leben. Barmherzigkeit, Mitgefühl, Gewaltfreiheit, Gerechtigkeit, Solidarität mit den Armen und Mißachteten, Vertrauen in Gottes unerschütterliche Liebe und Gehorsam gegenüber seinem Willen bestimmen dieses Leben. Aus Liebe und Gehorsam geht der Gottessohn und Menschenbruder unaufhaltsam seinen Weg - bis zum Tod. Er stirbt am Kreuz, damit wir befreit leben können. Viele kommen durch ihn zur Erkenntnis, unzählige schöpfen neuen Lebensmut. Allen gilt die Einladung, das Geschenk der Gotteskindschaft im Glauben anzunehmen, und die Ermutigung, Jesus nachzuahmen

5. Das ist eine schöne Vision für den Anfang eines neuen Jahres, wenn in ihm Gerechtigkeit, Friede, Solidarität in der christlichen Gemeinde und in allen Völkern gedeihten, wenn Barmherzigkeit und Mitgefühl das Miteinander der Menschen im Alltag prägten. Wachsen würde unsere Einsicht in die Freiheit, zu der wir befreit sind, und in die Liebe, die Gott uns in Jesus Christus erwiesen hat. Stoff für Träume? Stoff für gemeinsame Versuche zu leben. Gottes Geist begleite uns.


Schreiben Sie an post@predigtwerkstatt.de

© Gundula Kühneweg 2002