Psalm 91:
1 Wer im Schutz des Höchsten wohnt und ruht im Schatten des Allmächtigen, 2 der sagt zum Herrn: "Du bist für mich Zuflucht und Burg, mein Gott, dem ich vertraue." 3 Er rettet dich aus der Schlinge des Jägers und aus allem Verderben. 4 Er beschirmt dich mit seinen Flügeln, unter seinen Schwingen findest du Zuflucht, Schild und Schutz ist dir seine Treue.
5 Du brauchst dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten, noch vor dem Pfeil, der am Tag dahinfliegt, 6 nicht vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die wütet am Mittag. 7 Fallen auch tausend zu deiner Seite, dir zur Rechten zehnmal tausend, so wird es doch dich nicht treffen.
8 Ja, du wirst es sehen mit eigenen Augen, wirst zuschauen, wie den Frevlern vergolten wird. 9 Denn der Herr ist deine Zuflucht, du hast dir den Höchsten als Schutz erwählt.
10 Dir begegnet kein Unheil, kein Unglück naht deinem Zelt. 11 Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen. 12 Sie tragen dich auf ihren Händen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt; 13 du schreitest über Löwen und Nattern, trittst auf Löwen und Drachen.
14 "Weil er an mir hängt, will ich ihn retten; ich will ihn schützen, denn er kennt meinen Namen. 15 Wenn er mich anruft, dann will ich ihn erhören. Ich bin bei ihm in der Not, befreie ihn und bringe ihn zu Ehren. 16 Ich sättige ihn mit langem Leben und lasse ihn schauen mein Heil."
Und in diese brüchige Zeit hinein hören wir einen Psalm so voller Vertrauen, wie es kaum andere
Psalmen gibt. Als ob Vertrauen in Gott ein Allheilmittel wäre. Wie also ist der einundneunzigste Psalm zu begreifen,
damit wir ihn nicht missbrauchen. Damit er seine ursprüngliche Kraft nicht verliert gegen heute
übermächtig erscheinende konträre Lebenserfahrungen?
Ein Vertrauenspsalm, ein Vorschuss gleichsam wie eine Überschrift. Eine Vorgabe, die ich
nicht beiseite wischen möchte, sondern die ich auf ein tragendes Fundament stellen möchte.
Nicht mehr und nicht weniger. Der Psalm beginnt mit einer Grundlegung, die schon voll gepackt
ist mit zentralen Aussagen: der Schutz des Höchsten, der Schatten des Allmächtigen, die
Zuflucht beim Herrn, und Gott als meine Burg. Massiv. Aber wie gelangen wir in diese Burg,
damit sie uns birgt und nicht abweist? Damit sie menschlich warm wird und nicht eiskalter harter
Stein bleibt? Und außerdem: Der Psalm fährt ja sogleich fort, dass wir bedroht sind von allen
möglichen üblen Machenschaften uns unbekannter Menschen. Wer alles verbirgt sich für uns
hinter den Jägern, die uns Fallen stellen? Sollen wir etwa erst einmal allen misstrauen, wenn wir
neue Menschen kennen lernen? Schon wieder erscheint unser Psalm als missverständlich,
geradezu als missbräuchlich. Ist er ein scharfes Schwert, das nur in die Hand von Geübten
gelangen darf? Nein, denn wir hören nicht nur ein Bild von Gott. Der Burg Gottes ist bei weitem
nicht alles: Mit Flügeln beschirmt er uns, Zuflucht finden wir unter seinen Schwingen. Ein im
Alten und Neuen Testament häufig gebrauchtes Bild. Ein sehr richtungweisendes, denn Gott
selbst dreht hier die Richtung um: Er kommt auf uns zu, wir stehen nicht mehr vor der
Riesenburgmauer. Er nimmt uns "unter seine Fittiche".
"Unter die Fittiche nehmen?" - dieses Sprichwort zeigt, wie eben Sprichworte auch eine Kernaussage verändern können. Gott nimmt uns nicht beim Händchen, um uns durch das ach so böse Leben zu führen, das da in der fremden Welt nur auf uns wartet, um uns zu verderben. Gott, so sein klar geoffenbarter Wille, wendet sich uns zu, wie schon Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob, Rahel und Lea es erfahren haben. Sein Wille heißt: unsere Rettung. Das sind seine Fittiche. Das ist seine Wahrheit.
Aber: Was ist Wahrheit? Nicht nur die berühmte und vielfach missverstandene Frage des
Pilatus im Prozess gegen Jesus. "Wahrheit", so wie sie der Psalmenbeter versteht, ist nicht zu
verstehen als Begriff, sondern als Wahrnehmung und Erfahrung: Gott erweist sich als verlässlich,
als treu, als einer, der die Beziehung zu uns aufrecht erhält, der nicht flüchtet, wenn wir Schutz
suchen.- Und noch ein "Aber" hinterher: die Stille Gottes, der ferne Gott, der scheinbar
abwesende Gott des 11. September: Wo erweist sich seine Treue, wenn Tausende, deren Leben
ganz und gar nicht vollendet erscheint, einen unsinnigen Tod sterben? Der einundneunzigste
Psalm soll doch endlich zugeben, dass er uns den Zugang zu Gott erschwert, ja bisweilen beinahe
unmöglich macht.
Auch den Verfasser dieses Gedichtes, das wir als Lied in unseren Gottesdiensten singen, Dietrich Bonhoeffer, hat Gott nicht aus dem Gefängnis befreit. Seiner Familie wurden die Zukunftspläne gänzlich zerstört. Dennoch konnte er zur Jahreswende vor seinem Tod, im Dezember 1944, dichten: "Von guten Mächten wunderbar geborgen, behütet und getröstet wunderbar."
Und ich weigere mich aufzugeben. Weil ich weiß, dass dieser einundneunzigste Psalm aus der alten Weisheitstradition des Volkes Israel stammt, das das lange Exil in Babylon endlich überwunden hatte. Ein Psalm vor dem Hintergrund einer Freiheitserfahrung. Ein Psalm, der im Tempel dem Volk vorgebetet wurde, den man in den Schulen und auch im häuslichen Beten vollzog. Das Volk Israel selbst und damit alle einzelnen Betenden tragen ihr persönliches Vertrauensverhältnis vor Gott. Und praktizieren den Schutz: Wer im Tempel Asyl sucht, der erhält es. Rettung im menschlichen Bereich, weil Gott seine Rettung auf seine Art bereits verheißen hat. Ein Volk wendet Gottes Verheißung an. So mag verständlich werden, wenn Gott selbst am Ende des Psalms zum Sprechenden wird: Die an mir hängen, die werde ich retten - Die zu mir rufen, höre ich, bei den Notleiden werde ich sein.
Gott jedoch erfüllt nicht unsere Erwartungen, aber alle seine Verheißungen. Demnach bleibt es nicht bei unserer Erwartung der Rettung: Die aus der Not Befreiten bringt Gott zu Ehren, sättigt er mit langem Leben und lässt sie sein Heil schauen. Nur weil Gott Gott ist, rettet er uns, so wie er retten versteht. Es liegt an uns, Seinen Namen zu kennen und an ihm zu hängen. Seinen Namen zu kennen meint: personal mit Gott vertraut zu sein. Dann wird die ebenso persönliche Zuwendung Gottes entscheiden; denn Gott sagt genau diesen individuellen Schutz zu. Es gibt Situationen, in denen ich Gott unbedingt brauche, in der Tiefe einer Erschöpfung oder im Loch einer Verzweiflung. Dann muss mir die Zusage gemacht werden, dass mich Gott nicht tiefer stößt oder weiter fallen lässt - und fallen Tausende oder Zehntausende neben mir genau so tief. Dann muss Gott mich eine ungeteilte Aufmerksamkeit erfahren lassen - durch einen anderen Menschen etwa, der mich unbedingt ernst und wichtig nimmt.
Mag Gottes Handeln noch so oft unverständlich sein und Klagen über Klagen herausfordern, es gibt diese ungeteilte Zuwendung durch andere Menschen. Das lässt uns erfahren, dass es Gottes Rettungswillen, dass es eine begründete Hoffnung auf sein Heil gibt. Auch wenn meine begrenzten Vorstellungskräfte mir kein exaktes Bild davon zeichnen können.
Ich möchte Ihnen mit den biblischen Worten des Psalms wünschen, dass kein Unheil Ihrem Zelt naht, dass Sie über Löwen und Nattern schreiten können - weil Sie nicht alleine sind. Und weil Gott Gott ist - und bleibt. Darauf baue ich, und deshalb ist einundneunzigste Psalm auch für mich ein Psalm des Vertrauens.
Die Predigt wurde gehalten im Eröffnungsgottesdienst des Wintersemesters 2001/2002 für die Studierenden und Lehrenden der Katholischen Fachhochschule Mainz
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© Werner Müller-Geib |