Eine Frau ohne Abstand





Erster Korintherbrief 15,54-57: 54 Wenn aber dies Verwesliche anziehen wird die Unverweslichkeit und dies Sterbliche anziehen wird die Unsterblichkeit, dann wird erfüllt werden das Wort, das geschrieben steht (Jesaja 25,8; Hosea 13,14): "Der Tod ist verschlungen vom Sieg. 55 Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?" 56 Der Stachel des Todes aber ist die Sünde, die Kraft aber der Sünde ist das Gesetz. 57 Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt durch unsern Herrn Jesus Christus. .


1. Am 15. August feiern katholische Christen das Hochfest der Aufnahme Mariens in den Himmel. In vielen Kirchen sind dann die Marienstatuen besonders festlich geschmückt mit Blumen und Gestecken. Ich selbst kann mit überladenen Marienbildern wenig anfangen und wehre mich gegen das Brimborium, das oft um die Mutter Jesu gemacht wird. Mir ist, als beteiligten sich gerade Männer gern daran. Haben die keine eigenen Mütter, die sie besonders ehren können? Verdient hätten es wohl alle. Mich interessiert nicht die Gekrönte, nicht die Engelgleiche, nicht die Schutzmantelmadonna. Aber zu gerne wüßte ich genaueres über jene Frau, die sich auf ein Abenteuer einließ, das ohne das Geschenk der Gottes-Kraft nicht zu bestehen war: an seinem Anfang nicht und schon gar nicht an seinem vermeintlichen Ende.

2. Wie war sie wirklich, Maria, Josefs Frau? Wie hat sie ausgesehen? Wie reagierten die Menschen um sie herum, als Maria einen Sohn gebar und alle wussten, dass die Hochzeit noch keine neun Monate zurück lag? Wie hat sie ihren Alltag bewältigt? Das Fernsehen bringt eine Reportage aus Palästina. Von den Lebensbedingungen der Menschen ist die Rede. Die Kamera ist auf einige Frauen gerichtet. Zu sehen sind Gesichter, in denen sich Bescheidenheit und Entschlossenheit spiegeln. Gesichter, die von Entbehrung erzählen und doch Gelassenheit ausstrahlen ­ und Würde. Könnte Maria so ausgesehen haben? Nicht elegant wie eine Königin. Vielmehr bodenständig, zupackend, Leben bejahend, bescheiden, und auch ein bisschen stolz ­ so stell ich mir Maria gerne vor. Und wie hat sie gesprochen?

3. "Gott aber sei Dank, der uns den Sieg geschenkt hat durch Jesus Christus, unseren Herrn." Nein, das sind nicht ihre Worte. Das ist gelehrte Theologensprache. So spricht kein "Normalsterblicher". Und so spricht schon gar keine Mutter, der die Tränen der Trauer und des Schreckens kommen, wenn sie an das Schicksal ihres ältesten Sohnes denkt.
Maria: Vielleicht bedrückte es sie manchmal, dass sie ihren Erstgeborenen buchstäblich am Rande der Gesellschaft zur Welt bringen musste. Gewiss huschte ihr ein dankbares Lächeln übers Gesicht, wenn sie sich erinnerte, wie stolz sie bald schon auf alles war, was ihr Sohn lernte ­ und wie sehr sie später über einige seiner übermütigen Jungenstreiche erschrak. Gern beobachtete sie, wie intensiv Jesus den Glauben seiner Väter annahm und daraus lebte. Ja, immer wieder fand Maria Grund, Gott für diesen Sohn zu danken, und ihm Segen zu erflehen. Denn etwas Dunkles hatte sich schon vor Jahren in ihr Herz gegraben, als sie die Weissagung des alten Simeon hörte. Nie konnte sie dieses Wort vergessen: Durch deinen Sohn werden in Israel "viele aufgerichtet werden und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird. Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen". Wie recht sollte er behalten, der alte Mann im Tempel. Ja, Jesus hatte eine wunderbare Art, mit Menschen umzugehen. Wie viele mochten es gewesen sein, denen er neuen Lebensmut gab, die er wirklich aufrichtete, weil er sie von einer niederdrückenden Last, von Krankheit und Angst befreite, ihnen von der Liebe sprach, mit der Gott sein Volk umfängt, vor allen anderen die Armen, Rechtlosen, die Kinder.
Gern hätte sie ihren Sohn gelegentlich gewarnt vor der heraufziehenden Gefahr. Mütter spüren so etwas. Jesus hatte nicht nur Freunde, und seine Feinde waren mächtig. Aber Maria wusste, dass ihr nichts anderes zu tun blieb, als um Gottes Beistand für ihn zu beten.
Eines Tages kamen sie, die Soldaten der Mächtigen, verhafteten ihren Sohn, folterten ihn, verurteilten ihn zum Tode. Seine Mutter schrie und flehte: "Wo bist du, Gott? Sieh, was sie mit meinem Sohn machen. Mit deinem Sohn. Jesus hat dich doch mit strahlenden Augen seinen Vater genannt. Komm und hilf!"
Das Todesurteil wurde vollstreckt. Maria wäre wohl bereit gewesen, für ihren Sohn zu sterben. So ist sie mit ihm gestorben, als er am Kreuz hing, ­ jede Mutter, der ein Kind stirbt, verliert eigenes Leben. Für ihre Trauer gibt es keine Worte mehr.

4. "Gott aber sei Dank, der uns den Sieg geschenkt hat durch Jesus Christus, unseren Herrn." So konnte Maria nicht sprechen, nicht allein, weil sie ein einfacher Mensch war. Solche Worte sind nur denen möglich, die zurückblicken mit einem gewissen Abstand. Erkenntnis braucht Abstand. Maria hatte keinen Abstand, sie war mittendrin. Sie musste ihren Sohn begraben, und erfuhr doch, dass im Grab nicht sein Ende war. Das Grab konnte seine Liebe zu ihr und ihre Liebe zu ihm nicht untergraben. Gottes Liebe gräbt tiefer als jedes Grab. Gott sei Dank.
Ich weiß nicht, was in Maria vorging und ihr half, das zu leben, was sie glaubte. Die Evangelien verraten aber, dass ihr Vertrauen größer gewesen sein muss als die Trauer und ihre Hoffnung stärker als die Verzweiflung.
Ebendeshalb und wegen ihrer Liebe, die auch Schwerstes ertrug ohne zu zerbrechen, denke ich gern über Maria nach, deren Glaube, Hoffnung und Liebe den Reichtum jeder Königin überstrahlt. Und ich danke Gott, der uns den Sieg der Liebe über den Tod geschenkt hat durch Jesus Christus, Mariens Sohn.

Druckfassung



© Gundula Kühneweg 2001

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