Tödliche Lügen





Erster Brief an die Thessalonicher 1,5c-10: 5c Ihr wißt ja auch, in welcher Weise wir unter euch gewirkt haben, euch zugut. 6 Ihr seid [nun] unsere "Nachfolger" geworden und [damit die] des Herrn, indem ihr das Wort angenommen habt in großer Bedrängnis mit Freude, [wie sie] der heilige Geist [schenkt], 7 so daß ihr ein "Vorbild" für alle Glaubenden in Makedonien und Achaja geworden seid. 8 Von euch aus nämlich ist das Wort des Herrn erklungen, nicht nur in Makedonien und Achaja; sondern an jeden Ort ist euer Glaube an Gott gedrungen, so daß wir nicht nötig haben, etwas [davon] zu sagen. 9 Sie selbst nämlich erzählen von uns: Was für einen Eingang wir bei euch gefunden haben, und wir ihr euch zu Gott gewandt habt, weg von den Götzen, um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen 10 und seinen Sohn aus den Himmeln zu erwarten, den er auferweckt hat von den Toten, Jesus, der uns von dem kommenden Zorn errettet.


Stationen: Ein Erbstück / Gott und die Götzen / Gottes Religionskritik / Politischer Glaube / In unserer Mitte

(1) Ein Erbstück. "Ihr habt euch von den Götzen zu Gott bekehrt, um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen". So schreibt der Apostel Paulus der Christengemeinde von Thessalonich. Das Wort von der Bekehrung macht mich hilflos. Es klingt mir viel zu dramatisch, wenn ich es mit meinem Gefühlshaushalt vergleiche. Viel zu groß, wenn ich es neben meinen kleinen Glauben halte. Unser Glaube kommt mir eher vor wie ein Erbstück, das wir nun einmal empfangen haben und jetzt in den Händen halten. Gewiß: Es gibt Momente, wo wir spüren, daß es sich um ein kostbares Erbe handelt. Es gibt unser Bemühen, im Glauben zu wachsen und zu reifen und ihn auch an andere weiterzugeben. Das alles gibt es. Aber gibt es - Bekehrung? Wir könnten versucht sein, uns um eine Antwort zu drücken. Wir könnten darauf hinweisen, daß wir eine solche Bekehrung ja gar nicht nötig haben. Wir sind ja bereits Christen. "Ihr habt euch bekehrt weg von den Götzen hin zu Gott": das schreibt Paulus doch Menschen der Antike. Menschen in Thessalonich, einer Stadt, in der er es zu seiner Zeit keine einzige christliche Kirche, aber viele heidnische Tempel und Götzenbilder gab. Bekehrung: Das setzt doch wohl voraus, daß man eine Wahl zu treffen hat zwischen dem wahren Gott und irgendwelchen Götzen. Wir - so könnten wir sagen -, wir haben Bekehrung nicht nötig. Wir stehen vor keiner Wahl zwischen Gott und den Götzen.

(2) Gott und die Götzen. Ich meine: So schnell werden wir die Frage nach unserer eigenen Bekehrung nicht los. Ich möchte Sie einladen, einmal genauer hinzuhören, was Paulus den Christen in Thessalonich schreibt. In dieser griechischen Stadt am Meer hat Paulus selbst die Christengemeinde begründet. Die Gemeinde bestand aus ehemaligen "Heiden", d.h. aus Griechen, Römern und Menschen anderer Herkunft. Unter den Gemeindemitgliedern waren keine Juden. Das war etwas Neues. Die ersten christlichen Gemeinden waren jüdische Gemeinden so wie Paulus selbst ein Jude war. Für sie bedeutete der Glaube an Jesus keine neue Religion, sondern eine neue, eine lebendigere Weise, ihren ererbten jüdischen Glauben zu leben. Die Gemeindeglieder in Thessalonich dagegen hatten erst zum Gott der Bibel gefunden. Paulus schreibt in seinem Brief: "Alle Welt spricht von euch. Man sagt: Ihr habt euch bekehrt weg von den Götzen hin zu Gott." Worin unterscheidet sich dieser Gott von den Götzen? Die Antwort der Bibel ist einfach:

  • Gott ist ein Gott des Lebens. Götzen sind Mächte des Todes.
  • Gott schenkt. Auch seine Gebote sind eine Gabe. Götzen dagegen fordern. Auch ihre vermeintlichen Geschenke führen in tödliche Abhängigkeit.
  • Gott will Barmherzigkeit und keine Opfer, der Glaube an Gott entmachtet die Angst. Götzen schüchtern ein, sie machen Menschen zu Opfern.

(3) Gottes Religionskritik. Die Unterscheidung zwischen Götzen und Gott zielt nicht auf den Absolutheitsanspruch einer (vermeintlich) christlichen Weltanschauung. Eher schon ist sie Gottes eigene Religionskritik, die für alle Religionen gilt, auch für Juden und Christen. Wer mit Bezug auf den Gott der Bibel andere bedrückt, abhängig macht und ihr Leben beschädigt, der hat aus Gott einen Götzen gemacht. Und umgekehrt: Wo Menschen durch ihre Religion frei werden und zum Leben finden, dort hat religiöse Praxis etwas mit dem "Glauben" zu tun, um den es der Bibel geht, und mit dem Gott, auf den solcher Glaube antwortet. Auch, wenn ihm andere Namen geben werden. Auch, wenn die Bilder für sein Wirken und Wesen andere sind, als die Bibel gebraucht. Die Unterscheidung zwischen Gott und den Götzen läßt sich kaum besser formulieren, als es Martin Luther in seiner Auslegung des ersten Gebotes im Großen Katechismus gesagt hat: "Was heißt das, einen Gott haben", fragt Luther und antwortet:

"Ein Gott heißt das, wovon man alles Gute erwartet und wohin man Zuflucht nimmt in allen Nöten. Einen Gott haben, heißt nichts anderes, als ihm von Herzen vertrauen und glauben, so daß allein das Vertrauen und der Glaube des Herzens beide macht: Gott und Götze. Woran du nun dein Herz hängst und worauf du dich verläßt, das ist eigentlich dein Gott."

(4) Politischer Glaube. Götzen beschränken sich nicht auf das Etikett einer "religiösen" Weltanschauung. Zum Götzen kann alles werden, von dem wir uns abhängig machen. Von dem wir uns so abhängig machen, wie wir es in Wahrheit nur von Gott sind und sein dürfen. Deshalb gibt sich der jüdische und christliche Glaube nicht zufrieden damit, eine "Privatsache" zu sein. Von daher ist die Zeitgeistwende vom Chic des Atheismus der siebziger Jahre zum religiösen Markt der neunziger eine zwiespältige Erfahrung:

"Alles ist spirituell, nur die soziale Realität nicht, die viel zu banal wäre für den Weltgeist. Alles wird ganzheitlich gesehen, holistisch, nur soll diese Wahrheit nicht vermischt sein mit konkreten Interessen, gesellschaftlichen Konflikten, psychischen Widersprüchen"
Herbert Will, Die Privatisierung Gottes, in: Kursbuch 93, Berlin 1988.
Dem biblischen Gott geht es es um keine Konkurrenz auf dem "religiösen" Markt, sondern um den Streit mit den Mächten des Todes.

Der katholische Intellektuelle und Schriftsteller Carl Amery - im April dieses Jahres wird er achtzig Jahre alt - schreibt in seinem neuen Buch Global Exit. Die Kirchen und der Totale Markt  (München 2002):

"Der Totale Markt erfüllt alle Kriterien einer Religion.
Sein Dogmenbestand ist transzendenarm und banal; seine oberste Maxime lautet: Alles hat seinen Preis, und wenn etwas noch keinen hat, wird er ihm angeheftet.
Trotzdem (oder gerade deshalb) ist er zu alternativlosen Instanz der globalen Entscheidungen geworden.
In seiner historischen Raum-Zeit nimmt der Totale Markt die Funktion einer Reichsreligion wahr, die strukturell ziemlich genau der des spätrömischen Kaiserkults entspricht. Damals wie heute galt und gilt die Formel TINA - there is no alternative.
Was ihn jedoch radikal vom römischen Kaiserkult unterscheidet, ist seine Wirkmacht: In der evolutionär entfalteten Biosphäre wirkt der Totale Markt als Todesmaschine."
Die Struktur des globalisierten Kapitalismus ist nach Amery das Gegenteil dessen, was für ihn den Kern des Christentums auszeichnet: sie ist ohne Erbarmen. Erbarmen "blieb und bleibt den Kirchen angeheftet, ob sie selbst es deutlich gewahren oder nicht".

Würde Paulus uns diesen Satz schreiben: "Ihr habt euch bekehrt, weg von den Götzen, hin zu Gott"?

(5) In unserer Mitte. Der Gemeinde in Thessalonich hat Paulus dieses Lob geschrieben. Er freut sich über ihren Glauben. Er sagt: "Ihr seid dem Beispiel gefolgt, das ich euch gegeben habe, und damit seid ihr letztlich dem Beispiel Jesu gefolgt. Jetzt seid ihr selbst ein Beispiel für alle Gläubigen geworden". Hier beschreibt Paulus, wie der Glaube weitergegeben wird. Durch das Beispiel des Lebens. Das Leben Jesu, das Leben der Apostel, das Leben der Gläubigen. Nicht als Theorie, sondern als konkretes Leben macht Gottes Wort die Runde. Wenn Menschen sich für Gott entscheiden sollen, dann müssen sie am Leben anderer Menschen ablesen können - was das heißt: den Götzen widerstehen und an Gott glauben.

Ich denke dabei nicht in erster Linie an Moral als eine Art Leistungssport; nicht an besonders tugendhafte oder starke Menschen. Sondern ich denke an Menschen, die in ihrem Leben durchbuchstabieren, daß das Vertrauen auf Gott trägt. Die erfahren haben, was in der "Schönen Neuen Welt" zur peinlichen Anstößigkeit wird: Erbarmen.

Das können von außen ganz unscheinbare, ganz schwache, eben erbärmliche Menschen sein. Aber sie lassen sich tragen vom Vertrauen auf Gott.
Sie geben die Hoffnung nicht auf.
Sie sind nicht sattzukriegen mit dem Leben, das man kaufen kann.
Ihnen sind die Götzen zu klein.
Sie haben eine ungestillte Sehnsucht nach Leben.
Wir brauchen solche Menschen in unsere Mitte. Ich bin sicher: Wir haben solche Menschen in unserer Mitte.

Der Abschnitt 1 Thess 1,5c-10 ist nach dem dreijährigen Lesezyklus der katholischen Kirche die neutestamentliche Brieflesung für den 30. Sonntag im Jahreskreis A.

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