Osterspuren
Es gibt Situationen in meinem Leben, in denen mein Osterglaube besonders herausgefordert wird.. Situationen, in denen ich deutlich spüre, dass der Glaube an die Auferstehung von den Toten, den ich als Pfarrer an Ostern besonders festlich verkünde, besinge und feiere, kein fertiger Besitz ist, über den ich griffig verfügen kann, kein "Glaubensartikel", der jederzeit fraglos, zweifellos und fertig vorgewiesen werden kann. Bei einer Trauerfeier, die ich zu halten hatte, galt es Abschied zu nehmen von einer achtundachtzigjährigen Frau. Ihr Sarg wurde in die Erde gesenkt, und die Anwesenden streuten Erde in das Grab und schmückten es mit Blumen. Nach der Beerdigungsfeier, als ich mich von der Urenkelin der Verstorbenen verabschieden wollte, schaute mich das sechs Jahre alte Mädchen mit großen, etwas vorwurfsvollen Augen an und sagte: "Warum hast du denn meine Oma in dem Kasten gelassen?" Diese Frage aus Kindermund ging mir durch Mark und Bein. "Warum hast du denn meine Oma in dem Kasten gelassen?" Erst verschlug es mir die Sprache, dann beugte ich mich zu dem Kind herunter und sagte, oder vielleicht eher ich stammelte: "Deine Oma lebt jetzt beim lieben Gott! In dem Kasten, dem Sarg, liegt der tote Körper!" Das Kind nickte mit großen traurigen Augen, und ich spürte meine Hilflosigkeit; ich spürte, wie schwer es ist, mit Worten das Unfassbare zu fassen: das unfassbare und unbegreifliche Rätsel des Todes und das unfassbare und unbegreifliche Geheimnis des Glaubens an die Auferstehung von den Toten. Ich spürte, dass ich mit meinem Osterglauben nicht fertig bin, sondern immer ein Suchender und Lernender bleibe. Bei diesem Lern- und Suchprozess können Bilder und Symbole für mich hilfreich sein, um etwas von dem neuen Leben, das Gott uns schenken will, erahnen zu können. Daher ist die Feier der Osternacht voll mit Symbolen, mit Zeichen des Lebens: das Bild des Frühlings, in dem die Blumen aus einer unscheinbaren Zwiebel oder aus winzigen Samenkörnern herauswachsen; das Bild des Lichtes, das in der Finsternis zum Hoffnungsfunken wird; das Bild von der Morgendämmerung, von dem die Osterevangelien erzählen, als Prozess des Übergangs von der Nacht zum Tag; oder auch das Bild des Wassers in seiner bedrohlichen Bedeutung, aber auch mit seiner lebenspendenden und reinigenden Kraft. Die bekannte Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross verwendete in der Begleitung von sterbenden Kindern und Hinterbliebenen ein Nähkunstwerk als veranschaulichendes Bild: ein Stoffgebilde, das eine Raupe darstellt. Diese Raupe lässt sich durch einen Reißverschluss öffnen und ein wunderbar bunter Schmetterling kommt zum Vorschein. Mir wurde eine solche wandlungsfähige Raupe einmal geschenkt von einem Menschen, der aufgrund seiner schweren lebensbedrohlichen Erkrankung ständig der Realität des Todes gegenübersteht. Schon oft habe ich dieses Ostergeschenk in Osterkatechesen vor den staunenden Augen der Kinder entfaltet. Niemand würde der Raupe, diesem sich im Staub kriechenden Wurm, ansehen, welches farbenfrohe, wunderbare neue Leben sich daraus entpuppen kann. Freilich - solche Bilder sind keine Beweise. Sie sind eher Einladungen zur Nachdenklichkeit, Einladungen zum Glauben und zur Hoffnung, dass auch unser menschliches, vergängliches Leben mehr ist als das, was wir mit unseren Augen von außen sehen können, mehr als das, was wir fassen und begreifen. Diese Bilder lassen uns erahnen, dass in äußerlich Unscheinbarem und Vergänglichem die Dynamik der Verwandlung zu einer neuen Schöpfung verborgen liegt. Diese Bilder sind Ausdruck unserer Sehnsucht nach Leben, in all unserer Zerbrechlichkeit und Angst, bei all unserem Seufzen und Trauern, das unser Herz angesichts unserer Grenzerfahrungen bedrückt. "Wir sind zwar gerettet. aber auf Hoffnung hin! Wie kann man auf etwas hoffen, das man sieht?" schreibt Paulus in seinem Brief an die Römer (Römerbrief 8,24). Und er fügt den österlichen Metaphern noch ein weiteres Bild hinzu: die Geburtswehen, die zu erleiden sind, bevor neues menschliches Leben das Licht der Welt erblicken kann. Was weiß schon ein Embryo über das Leben, das ihn nach seiner Geburt erwartet? Was wissen wir schon über das Leben, das uns nach dem Tod bei Gott erwartet? Eine andere Situation, in der mein Osterglaube herausgefordert wurde: Bei einem Trauerbesuch sagte mir der Mann, dessen Frau mit fünfundfünfzig Jahren an Leukämie verstorben war: "Gott ist für mich weit weg. Mit dem Glauben an ihn habe ich kaum noch etwas zu tun. Wenn meine Frau wieder gesund geworden wäre, dann hätte ich vielleicht wieder gelernt, an Gott zu glauben. Aber so ist meine Enttäuschung zu groß." Und die Tochter fragte mich: "Zweifeln Sie eigentlich nicht auch an diesem lieben Gott, wenn Sie so viel Leid und Traurigkeit mitbekommen?" Auch hier wieder spürte ich: Es gibt keine griffigen Antworten, keine befriedigenden Deutungen, die mir glatt über die Lippen gehen. In solchen Gesprächen fühle ich mich oft hilflos und auch immer wieder sprachlos; ich merke, dass Schweigen, ehrliche Betroffenheit und Mitfühlen, Mittrauern im Aushalten des Unfassbaren besser ist als alles Reden. Die tiefe emotionale Erschütterung über den Verlust eines nahen und geliebten Menschen scheint bei den Hinterbliebenen viel stärker zu sein, als die Botschaft vom neuen Leben, das, wie wir glauben und verkünden, unsere Verstorbenen bei Gott erwartet. Stammelnd versuchte ich zu sagen, dass es auch in mir Fragen und Zweifel gibt und dass ich sehr wohl verstehen kann, dass Menschen, denen der liebste Weggefährte, der beste Freund, die beste Freundin genommen wurde, das Gefühl haben, von Gott verlassen worden zu sein.. Angesichts solcher Herausforderungen finde ich mich mit meinem Empfinden in dem Gebet wieder, das der Vater des besessenen Jungen zu Jesus sagt: "Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben!" (Markusevangelium 9,23) Glaube ist keine fertige Sache, über die ich abrufbar und sicher, todsicher, jederzeit verfüge. Glaube, Osterglaube ist für mich ein ständiger Lernprozess des Herzens, mit Klagen und Fragen, mit Hoffen und Bangen, mit Tränen und auch mit der Erfahrung von Gottesfinsternis. Gott sei Dank verschweigt die christliche Osterbotschaft die Erfahrung der Enttäuschung, der Fassungslosigkeit, der tiefen Erschütterung und Trauer und auch der Gottesfinsternis nicht. Das Osterevangelium beginnt mit dem Hinweis auf ein gewaltiges Erdbeben, das die Frauen auf ihrem Weg zum Grab in der Morgendämmerung erleben. Ihnen war durch den Tod Jesu "der Boden unter den Füßen", der "Grund zum Leben" ins Wanken geraten. Auch die Stimmung der Jünger auf ihrem Weg nach Emmaus ist zunächst von Hoffnungslosigkeit und lähmender Enttäuschung geprägt, obwohl sie schon die Auferstehungsbotschaft gehört haben. Aber das bloße zur Kenntnis nehmen der Osterbotschaft, alle Erklärungen und Predigten reichen offenbar nicht aus, um ein in Trauer gefangenes Herz zu verwandeln. In den Osterevangelien erklingt noch kein vorschnelles österliches Halleluja. Der Prozess der Trauer und Erschütterung in den Herzen der Freundinnen und Freunde Jesu wird zugelassen und offensichtlich sehr ernst genommen. Die Erfahrung der Gottesfinsternis ist auch Jesus selbst nicht fremd geblieben, wenn uns berichtet wird, dass er in seiner Sterbestunde, als sich die Sonne verfinsterte, ruft: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Auch wenn in meinem Leben alles aussichtslos erscheint, darf ich Jesus an meiner Seite wissen. Hierin sehe ich für mich immer noch, bei allem Furchtbaren, was passieren mag, die letzte Möglichkeit, die letzte Rettung: Bei allen Fragen und Anfechtungen, bei aller Enttäuschung und Sprachlosigkeit, bei aller Leiderfahrung und Trauer darf ich mich "dennoch" an diesen mir oft so unbegreiflich erscheinenden Gott wenden, im Vertrauen darauf, dass ich letztlich trotz allem bei ihm geborgen und von ihm gehalten bin. Ostern ist für mich ein ständiger Aufstand gegen Mutlosigkeit und Enttäuschung. Und auch das darf ich, Gott-sei-Dank, immer wieder erfahren, dass mein Osterglaube nicht nur herausgefordert und angefochten, sondern oft auch gestärkt und ermutigt wird. Wenn ich Menschen begegne, die auch noch in äußerster Belastung und in aussichtslos erscheinendem Leid dennoch voll Hoffnung und Lebensfreude sind. Nicht weil das Leid verdrängt oder überspielt wird; das wäre eine vorgetäuschte und aufgesetzte, verkrampfte Stimmung; sondern weil das Leid angenommen und durchlitten ist und dabei viele tiefe Erfahrungen des Herzens entdeckt wurden. Ich denke da an einen jungen Mann, der mit siebenunddreißig Jahren an Aids gestorben ist. Ich habe ihn in den letzten Wochen vor seinem Tod mehrmals besucht. Immer wieder war ich tief beeindruckt, mit welchem Lebensmut, mit welcher Hoffnung, mit wie vielen Zukunftsplänen, mit wie viel Gottvertrauen er seine Krankheit annahm. Und diese Hoffnung betraf zunächst nicht eine Vertröstung auf ein Jenseits, diese Hoffnung betraf vor allem die lebensbejahende und positive Einstellung zum Leben im Hier und Jetzt, trotz aller krankheitsbedingten Einschränkungen. Neben seinem Krankenbett lag die Bibel; hieraus, aus dem Gebet und aus der treuen einfühlsamen Begleitung von guten Freunden schöpfte er Lebensenergie und Zuversicht; hieraus wurde ihm die Kraft geschenkt, nicht zu verzagen, zu klagen, zu verzweifeln, sondern immer noch bei aller körperlichen Hinfälligkeit ein geduldig hoffender, freundlicher Mensch zu sein, der bei allem Leid noch die guten und liebenswerten Seiten des Lebens und die kleinen Zeichen des Herzens wahrnehmen konnte. Mich haben diese Begegnungen und Gespräche tief bewegt und auch reich beschenkt. Da wurde für mich Osterglaube konkret erlebbar, schon diesseits der Todesgrenze. Eingerahmt hing zu Hause über dem Bett des jungen Mannes ein alter christlicher Text. Ein Satz daraus wurde später in seine Todesanzeige geschrieben: "Mit all ihrem Schein, ihren Kümmernissen und zerbrochenen Träumen ist diese Welt dennoch wunderbar!" Im Osterevangelium werden die Frauen vom Grab weg in ihr alltägliches Leben geschickt.
Dort beginnt für sie ein neues Leben, mit neuer Hoffnung und neuer Lebensfreude, in dem
Vertrauen, dass der auferstandene Jesus ihnen in neuer Weise nahe ist. Auch wir gehen
nach den Osterfeiertagen wieder in unseren Alltag mit all seinen Kümmernissen und
Träumen. Wie wäre es, wenn wir auch einen neuen Anfang wagen würden mit mehr
Zuversicht, Dankbarkeit, Einfühlsamkeit, Vergebungsbereitschaft und Lebensmut, in dem
Vertrauen, dass der auferstandene Christus an unserer Seite ist. An Ostern wirbt Gott neu
um unser Vertrauen; Vertrauen darauf, dass jeder Karfreitagserfahrung der Ostermorgen
folgt und dass wir in Gottes Liebe geborgen bleiben, komme was mag. Ostern ist die
Einladung an uns, in unserem alltäglichen Leben Lichtblicke, Lebenszeichen und
Hoffnungsspuren zu suchen.
So wie die Kinder, einem alten Brauch entsprechend, in den Ostertagen Ostereier suchen
als Symbol für farbenfrohes Leben, so könnte es an Ostern auch für uns Große darum
gehen, in unserem Leben Osterspuren zu entdecken. Manchmal sind solche
Hoffnungszeichen ziemlich versteckt und es bedarf einiger Anstrengung und Geduld, um
Osterspuren zu entdecken. Vielleicht kann uns ein modernes Osterlied bei der
Spurensuche helfen:
Wo einer dem andern neu vertraut und mit ihm eine Brücke baut, Wo einer am Ende nicht verzagt und einen neuen Anfang wagt, Wo einer im Dunkeln nicht verstummt, sondern das Lied der Hoffnung summt, Wo einer das Unrecht beim Namen nennt und sich zu seiner Schuld bekennt, Wo einer das Unbequeme wagt und offen seine Meinung sagt, Wo einer gegen die Strömung schwimmt und fremde Lasten auf sich nimmt, Wo einer dich aus Trägheit weckt und einen Weg mit dir entdeckt, © Ulrich Katzenbach
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