Ohne Kameras





Confessio Augustana Artikel 11:
Von der Beichte wird gelehrt, daß man in der Kirche die dem einzelnen zugesprochene Absolution beibehalten und nicht wegfallen lassen soll. Freilich ist es nicht nötig, alle Missetaten und Sünden in der Beichte aufzuzählen, weil das gar nicht möglich ist: "Wer kann merken, wie oft er fehlet?" (Psalm 19,13)


1. "Ihr Evangelischen habt es gut", höre ich einen neunjährigen Jungen zu seinem Freund sagen, "ihr braucht nicht zu beichten. Ich muß morgen zur Erstbeichte. Ich bin schon richtig aufgeregt und weiß gar nicht, was ich da eigentlich sagen soll."

Im Gegensatz zu diesem Kind scheint vielen Erwachsenen in unserem Land, unabhängig davon, ob sie katholisch sind oder evangelisch oder ohne religiöses Bekenntnis, der Gedanke an eine Beichte nicht aufzuregen. Aufregend scheint ihnen hingegen die Vorstellung zu sein, daß Hunderttausenden ihr Bekenntnis zu Ohren kommt. Es ist wirklich so, Sie und ich können, so wir wollen, regelmäßig Beichten hören und zugleich beobachten, wie Menschen sich geben und ausdrücken, wenn sie ihr Innerstes nach außen kehren. Jeden Tag finden sich aufs neue Menschen, die ihre Lebensgeschichte, ihre Schuld, ihr Fehlverhalten vor uns zur Sprache bringen und auch damit verbundene Gefühlsausbrüche nicht verbergen. Wir haben bei diesem Geschehen den vermeintlich besseren Teil erwählt. Wir müssen uns nicht engagieren, nicht einmal im genauen Zuhören. Wir sitzen gemütlich im Sessel und erwarten gute Unterhaltung, denn diese Menschen beichten öffentlich, vor laufenden Kameras und - mit Hilfe des Moderators - medienwirksam.

Was bewegt Menschen dazu, ihre Schuld, ihr Versagen öffentlich zu benennen? Ich weiß es nicht. Daß sie sich mit dem, was sie belastet, nur zur Schau stellen, um einmal im Mittelpunkt zu stehen, will ich nicht glauben. Allerdings auch nicht, daß sie sich am Ende der Sendung erleichtert, befreit finden. Wer sagt diesen Menschen wohl ein ernstes, gutes, helfendes Wort zu, vielleicht sogar ein Vergebungswort?

Was bewegt andererseits so viele Fernsehzuschauer, sich solche Sendungen anzusehen, in denen Menschen ihre inneren Schutzräume verlassen und sich vor aller Welt offenbaren?

2. Möglicherweise besteht sogar eine Verbindung zwischen beiden Gruppen. Ich glaube, sie alle - und mit ihnen wohl auch wir selbst - möchten sich zeigen dürfen und angenommen wissen mit allem, was sie wirklich ausmacht. Nicht länger schauspielen müssen, nur um einen guten Eindruck zu hinterlassen. Sich nicht länger beherrschen müssen, wo doch das Herz übergehen möchte - vor Kummer oder vor Freude. Nicht nur positiv Denken müssen, wo doch die Sorgen des Alltags Kopfschmerzen bereiten. Nicht länger nur angepaßt sein müssen - wo doch die Lebenslust ihren Ausdruck finden möchte. Nicht länger nur stark sein müssen, wo doch viele Ängste das Leben mitbestimmen. Nicht mehr nur den Lebenskünstler nach außen kehren müssen, wo doch die Frage nach dem Lebenssinn oft den Schlaf raubt. Sich nicht immer überlegen geben müssen, wo doch Schuld und Versagen am Gewissen nagen. Nicht immer alles wissen müssen, wo doch das Herz im Geheimen nach Weisung verlangt.

Vielleicht ist das ein Grund dafür, daß Menschen einen Ort suchen, an dem sie sich mitteilen dürfen, wo sie zur Sprache bringen dürfen, wofür ihnen eigentlich die richtigen Worte fehlen und was doch gesagt werden will. Sie suchen Menschen, die ihr Bekenntnis nicht nur anhören, sondern sie auch verstehen. Sie hoffen wohl auch auf die Erfahrung, angenommen zu sein, beim Tragen ihrer Last gestützt zu werden, für eine gewisse Zeit zumindest gestärkt zu werden.

Ich behaupte, ein Fernsehstudio mit laufenden Kameras und offenen Mikrophonen kann sich dafür nur höchst selten als der geeignete Ort erweisen. Es bleibt allerdings die Frage nach den wirklich geeigneten Orten.

3. Was sagte doch der kleine Katholik zu seinem Freund: "Ihr Evangelischen habt es gut, ihr braucht nicht zu beichten."

Wie vielen Evangelischen, denke ich, mag es mit ihrem Glaubensleben und mit dem Bemühen, das Leben zu bewältigen, schlecht ergehen, weil sie um das heilsame Mittel der Beichte nicht wissen. Zwar werden in unseren Kirchen auch Gottesdienste gefeiert, in denen die Gemeinde vermahnt und ein allgemeines Schuldbekenntnis gesprochen wird. An den Sonntagen Invokavit und Exaudi etwa, am Buß- und Bettag natürlich und am dritten Adventssonntag. Auch besondere Bußandachten werden in vielen evangelischen Gemeinden angeboten, vor allem in der Passions- und Adventszeit, aber die Einzelbeichte, von der der kleine Junge sprach, gehört in evangelischen Gemeinden nur zur selten geübten Praxis.

"Beichten ist katholisch. Das Bußsakrament gehört zu dem, was die evangelische Kirche von der katholischen unterscheidet." Warum sich dieses Vorurteil im Laufe der Geschichte so manifestieren konnte, weiß ich nicht, aber es war und ist falsch. Schon im Augsburger Bekenntnis von 1530 heißt es im elften Artikel: "Von der Beichte wird gelehrt, daß man in der Kirche die dem einzelnen zugesprochene Absolution (Sündenvergebung) beibehalten und nicht wegfallen lassen soll." Beichten ist nicht auf eine bestimmte Kirchenzugehörigkeit beschränkt. Die Beichte gehört - eigentlich - wesentlich zum Vollzug jeder christlichen Gemeinde. Wo das nicht der Fall ist, wo das Bußsakrament nicht gespendet wird, ist nicht nur das Leben des einzelnen Christen, sondern auch das der christlichen Gemeinde von Fehlentwicklungen bedroht.

Bußsakrament? Wir kennen in der evangelischen Kirche doch nur zwei Sakramente, die Taufe und das Abendmahl. Dem Wort nach stimmt das, denn zu einem Sakrament gehören Wort und Element. Für die Buße findet sich nur das Wort. Aber im Augsburger Bekenntnis sind die Artikel über Beichte und Buße denen über Taufe und Abendmahl direkt beigeordnet - und dann erst folgt eine Erklärung über Bedeutung und Gebrauch der Sakramente (Artikel 13). Das läßt darauf schließen, daß Beichte und Buße für die Reformatoren zumindest einen sakramentalen Charakter hatte.

Ein Blick in die Kirchengeschichte zeigt sogar, daß für Martin Luther die Auseinandersetzung mit den Auswüchsen des Bußsakraments zum Auslöser der Reformation wurde. Durch die kirchliche Bußpraxis des sechzehnten Jahrhunderts hatte die Beichte für Luther ihre Aufgabe verloren, die darin bestand, das Gewissen im Lichte Gottes zu erforschen, und die Bereitschaft zu wecken, sich als Sünder zu erkennen und eigene Schuld einzugestehen. Ihr diese Aufgabe wieder zuzuweisen, war ein wichtiges Anliegen des Reformators.

Ein Blick auf die Vielzahl jener speziellen Fernseh-Talkshows - und ihre hohen Einschaltquoten - belegen, wie sehr auch heute Menschen danach verlangen, das auszusprechen, zu bekennen, was ihnen auf der Seele lastet.

Daß aber Menschen sich deshalb teilweise zur Schau stellen müssen, und andere sich daran ergötzen oder sich darüber ereifern, weil es sonst scheinbar keinen Raum für sie gibt, das ist erschreckend. Dabei gibt es diesen Raum, kennt auch unsere Kirche, Gott sei Dank, noch immer einen Ort und Rahmen, in dem Menschen die Erfahrung machen dürfen, sich als Sünder zu erkennen, zu ihrer eigenen Schuld zu stehen - und trotzdem angenommen zu sein und um Jesu Christi willen, der unsere Schuld ans Kreuz getragen hat, Vergebung zu erlangen.

4. "Ihr Evangelischen habt es gut, ihr braucht nicht zu beichten", sagte der katholische Junge, der sich mit seiner Beichte auf die Erstkommunion vorbereiten sollte. Ich denke, wir Evangelischen werden es viel besser haben, wenn wir für unseren Glaubens- und Lebensvollzug wieder die Beichte entdecken. Sie ist ja ein Geschenk Gottes, der Reue und Glaube in uns weckt - und den Dienst von Pfarrerinnen und Pfarrern beansprucht, um die Absolution auszusprechen, die Vergebung der Sünden.

Druckfassung



© Gundula Kühneweg 2001

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