Zeugin des Freispruchs





Johannesevangelium 20,1,11-18a: 1 Am ersten Wochentag aber, früh - noch dunkel war es - kommt Maria aus Magdala zum Grab und erblickt den Stein vom Grab weggenommen.
11 Maria stand weinend außen am Grab. Wie sie dahinweinte, bückte sie sich ins Grab hinein. 12 Und sie schaut zwei Engel, in Weiß dasitzend - einen beim Kopf und einen zu Füßen, wo der Leib Jesu gelegen. 13 Und die sagen zu ihr: Frau, was weinst du? Sagt sie zu ihnen: Meinen Herrn haben sie weggeholt, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben. 14 Sie sprach das und wandte sich zurück - da schaut sie: Jesus steht da. Sie wußte aber nicht, daß es Jesus war. 15 Sagt Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Da sie wähnt, es sei der Gärtner, sagt sie zu ihm: Herr, wenn du ihn weggetragen hast, sprich zu mir, wo du ihn hingelegt hast, damit ich selber ihn weghole. 16 Sagt Jesus zu ihr: Maria! Die wendet sich um und sagt hebräisch zu ihm: Rabbuni! Das heißt: Mein Meister. 17 Sagt Jesus zu ihr: Halt mich nicht fest! Denn noch bin ich nicht zum Vater aufgestiegen. Doch geh zu meinen Brüdern und Schwestern und sprich zu ihnen: Ich steige auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott. 18 Maria aus Magdala geht und verkündet den Jüngern: Ich habe den Herrn gesehen!


Stationen: Zeugin der Anklage / Bis zum Schluß / Eine sehr lebendige Frau / Eine Frau am Ende? / Die Auferweckung Marias / Zeugen des Freispruchs

1. Zeugin der Anklage - so heißt ein berühmter Film nach einer Geschichte von Agatha Christie. Marlene Dietrich spielt darin die Ehefrau eines wegen Mordes Angeklagten, und überraschenderweise entlastet sie ihn nicht. Das Kino geht in den Gerichtssaal: Eine Art von Filmen, die besonders in den Vereinigten Staaten nach wie vor Publikumsrenner sind. Nach amerikanischem Recht hat ein Geschworenengericht, eine Jury, über die Beweise und die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu urteilen.
Maria Magadalena von Losch, bekannt als 'Marlene Dietrich' Diese Filme leben von der Annahme, daß sich der Alltag mit seinen kleinen Schwindeleien und großen Lügen im Gerichtssaal zurückzieht. Und eine Wahrheit zum Vorschein kommt, die über Urteil oder Freispruch entscheidet. Wie in dem berühmten Film mit Marlene Dietrich geht es fast immer um eine Sache auf Leben und Tod, und es geht um die Glaubwürdigkeit der entscheidenden Zeugen.

2. Bis zum Schluß. In diesen Tagen feiern Christinnen und Christen Ostern. Da geht's um eine Frage von Leben und Tod, und es geht um die Glaubwürdigkeit der entscheidenden Zeugen. Alle vier Evangelien berichten, daß Frauen die ersten waren, die den Schritt machten von der Trauer über den Tod Jesu zum Glauben, daß er lebt. Und das Neue Testament berichtet auch, daß sie damit bei den männlichen Jüngern wenig Glauben fanden. Im Lukasevangelium heißt es: "Den Aposteln aber erschienen diese Worte als leeres Weibergeschwätz, und sie glaubten ihnen nicht" (Lukasevangelium 24,11). Dabei waren es die Jüngerinnen Jesu, die zur entscheidenden Stunde da waren: Sie standen unter dem Kreuz, und sie kamen zum Grab. Zeugen seiner Hinrichtung waren nach den Worten der Evangelien "viele Frauen, die Jesus von Galiläa her nachgefolgt waren". Sie waren nicht weggelaufen. Sie blieben unter dem Kreuz, und sie gingen zum Grab.

3. Eine sehr lebendige Frau. Nach antiker Sitte galt die Glaubwürdigkeit einer Frau vor Gericht und als Zeugin nur wenig. Die ersten christlichen Männer scheinen davon keine Ausnahme zu machen. Vielleicht liegt es daran, daß alle Evangelien zwar von Jüngerinnen Jesu berichten, aber die Notizen nur kurz und spärlich sind. "Viele Frauen" heißt es: Beim Vergleich der biblischen Texte stellt man fest, daß nur einige von ihnen mit Namen genannt werden, und die Liste ihrer Namen ist auch nicht einheitlich. Ein Name aber hat sich bei allen festgesetzt. Keines der vier Evangelien verschweigt ihn: Die erste unter dem Kreuz und die erste am Grab war Maria aus Magdala. Eine Frau aus Galiläa, aus einem Nachbarort von Kafarnaum, dem Ort, in dem Jesu wohnte. Mehr erfahren wir von ihr nicht. Offenkundig war das Interesse der Erzähler und Zuhörer damals nicht auf Jesu Jüngerinnen gerichtet. Aber zumindest wird das wenige, das sie berichten, dadurch um so bedeutsamer. Keine Frage: Maria aus Magdala war eine Frau der ersten Stunde. Eine Jüngerin Jesu, die ihm nachgefolgt ist auf dem Weg von Galiläa nach Jerusalem. Sie führt die Frauen an, die unter dem Kreuz aushalten und die den Weg zu seinem Grab finden. Maria aus Magdala: eine starke, sehr lebendige Frau und eine Vertraute Jesu.

4. Eine Frau am Ende? Das Osterevangelium von der Begegnung Jesu mit Maria aus Magdala läßt dieses Vertrautsein spüren. Als sie den toten Jesus dort nicht findet, wo sie ihn sucht, spricht sie einen Mann an, den sie als Gärtner der Grabanlage vermutet. Nur ein Wort, und ihr gehen die Augen auf: "Maria". Diese Ostergeschichte ist wie ein Blick in das Innere einer großen Liebe: "Rabbuni - "Mein Lehrer". Zwei Worte nur, ein Zuruf und eine Antwort, und Unmögliches scheint überbrückt: Tod und Leben, die Endgültigkeit einer Hinrichtung und die Unbesiegbarkeit einer Liebe, eine zu Ende gegangene Geschichte und eine unvorhergesehene Zukunft: "Maria" - "Mein Lehrer". Wer ist in dieser Ostergeschichte tot, und wer ist lebendig? Auf den ersten Blick eine merkwürdige Frage. Die Antwort scheint klar: Eine Frau geht zum Grab auf der Suche nach einem Leichnam. Aber das Evangelium erzählt etwas ganz anderes: Es erzählt von einer Frau, deren Leben ans Ende gekommen war.

5. Die Auferweckung Marias. Eine Frau, die gegen die Regeln ihrer Zeit alles verlassen hatte, um einem Prediger namens Jesus zu folgen und seiner Botschaft. Als Jüdin kannte Maria die großen Worte der heiligen Überlieferung, Worte wie die aus dem Buch des Propheten Jesaja: "Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du gehörst mir. Weil du in meinen Augen teuer und wertvoll bist, und weil ich dich liebe" (Jesaja 43,1.4). Daß diese Liebe ihr galt, daß Gott auch ihr und ihrem Leben treu ist mehr als je ein irdischer Vater seinen Kindern: Das hatte sie mit Jesus und durch Jesus erfahren. Gott, der sie bei ihrem Namen ruft wie keinen anderen Menschen sonst: Aus Jesu Stimme hatte sie das hören können - immer wenn er sie angesprochen hat: "Maria". All das scheint mit der Hinrichtung Jesu zu Ende gegangen: nichts als ein Traum und ein böses Erwachen.
Was Maria bleibt, ist die Trauer. Ihr Leben, die entscheidende Erfahrung ihres Lebens scheint zu Ende: Mitten im Leben ist sie bereits tot. Und dann erfährt sie, daß die Botschaft Jesu von Gottes Treue keine leere Münze war. Der, den sie bei den Toten gesucht hat, ist lebendig. Und er ruft sie von neuem ins Leben: "Maria". Der auferstandene Jesus führt Maria vom Tod ins Leben. Er schickt sie vom Friedhof in die Stadt zurück, aus der Einsamkeit ihrer Trauer in den Kreis der Jünger. Die Auferweckung Jesu wird zur Auferweckung der Maria aus Magdala. Hans Baldung Grien (1512), Die heilige Maria Magdalena

6. Zeugen des Freispruchs. Christinnen und Christen feiern in diesen Tagen Ostern. Sie bezeugen, daß der Gekreuzigte lebt. Zumindest an Ostern muß man es klar sagen: Beim Christsein geht's um eine Frage von Leben und Tod, und es geht um die Glaubwürdigkeit der Zeugen. Heute wie damals läßt sich der auferstandene Jesus nicht bei Toten finden. Sondern dort, wo Menschen sich von ihm ins Leben rufen lassen - wie Maria aus Magdala. Wo Menschen in der Stimme Jesu, wie sie aus den Evangelien - heute wie vor zweitausend Jahren - redet, die Stimme Gottes hören: "Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du gehörst mir. Weil du in meinen Augen teuer und wertvoll bist, und weil ich dich liebe" (Jesaja 43,1.4). Heute wie damals läßt sich der auferstandene Jesus nicht bei Toten finden. Sondern dort, wo Menschen die Augen und Ohren aufgehen. Für die Einsicht, wo ihr Leben in Sackgassen und an ein Ende geraten ist, und für die Erkenntnis, auf welchen Weg das Evangelium sie ruft. Heute wie damals läßt sich der auferstandene Jesus nicht bei Toten finden. Sondern dort, wo Menschen aus einem Leben, das bei sich selber bleiben will, heraus sich in die Gemeinschaft der anderen führen lassen. Christinnen und Christen feiern Ostern, nicht nur in diesen Tagen, sondern jeden Sonntag des Jahres. Manchmal kann man erfahren, daß sich in ihrer Mitte der Alltag mit seinen kleinen Schwindeleien und großen Lügen zurückzieht und eine Wahrheit zum Vorschein kommt, die Freispruch bedeutet. Für alle.

Der Abschnitt aus dem Johannesevangelium, Kapitel 20, Verse 1-18 ist nach der Leseordnung der katholischen Kirche die Evangelienlesung für den Ostersonntag.

Neugierig auf Maria aus Magdala? Dann lesen Sie das Angebot einer Bildungsveranstaltung zu der "anderen Maria"



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