Weihnachtlicher Realitätssinn
Stationen: Festtagszusammenkünfte / Vom Zusammenführen und Trennen / Weihnachten und die Bundeswehr / Weihnachten und der Aktienmarkt / Der Wirklichkeitssinn von Weihnachten / Die Wahrheit von Weihnachten (1) Festtagszusammenkünfte.Weihnachten erzeugt Hilflosigkeiten. Das Fest führt Menschen zusammen, in Kirchen und Wohnzimmern: Eltern, Kinder, Enkel, Familien, die sich übers Jahr vielleicht nur selten vollzählig zusammenfinden: An Weihnachten kommen sie zusammen. Das ist - trotz aller Kritik an Weihnachten - ein Stück Sehnsucht, die auf das Evangelium trifft: "Gott ruft sein Volk zusammen rings auf dem Erdenrund, eint uns in Christi Namen zu einem neuen Bund." Aber Weihnachten erzeugt auch Hilflosigkeiten. Wie gehen wir mit dem um, was uns trennt? Alte Verletzungen, die Konflikte dieses Jahres, nie geklärte, unausgesprochene Sätze: Das meiste davon schlucken wir an diesen Tagen hinunter. Um des lieben Weihnachtsfriedens willen. Möglicherweise sind wir am Ende gar nicht unfroh, wenn die Feiertage vorüber sind. Eine kurze Zeit bringt uns Weihnachten zusammen. Und die Frage ist erlaubt, was uns da zusammenführt. Ob es uns zusammenhält. Und ob es uns durch die Zeit trägt, wenn die Lichter abgebrannt, die Geschenke ausgepackt und die Weihnachtskugeln fürs nächste Jahr verstaut sind. (2) Vom Zusammenführen und Trennen. Weihnachten ist von Anfang an eine Geschichte vom Zusammenführen und Trennen.
(3) Weihnachten und die Bundeswehr. Die wirkliche Welt, in der wir leben, gibt diesem Blick recht. Noch immer ist kein Friede. Erst recht nicht im Geburtsland Jesu, in Israel/Palästina. Uns in Europa hat in den letzten Jahren der Bürgerkrieg im zerfallenen Jugoslawien unsere Hilflosigkeit besonders vor Augen geführt. Bundeswehr-Soldaten in Bosnien und im Kosovo als Teil von Streitkräften der Vereinten Nationen, vom Rande des Kampfgeschehens zum erstenmal in eine "heiße" Zone verlegt. Die Bundeswehr bereitet sich auf eine neue Rolle vor. Welche wird das sein? (In einem Schreiben mit dem Titel "Gerechter Friede" haben die deutschen Bischöfe über den Frieden angesichts der seit 1989 veränderten Lage nachgedacht.) Noch immer ist kein Friede. Und niemand weiß so recht, wie der zu erreichen wäre ohne Soldaten und ohne militärische Macht. Was führt Menschen zusammen, und was trennt sie? (4) Weihnachten und der Aktienmarkt. An Europa richtet sich die Hoffnung, daß es durch die gemeinsame neue Währung, den Euro, zu einer friedlichen Völkergemeinschaft zusammenwächst. Was nach innen vereinen soll, zieht nach außen Grenzen: Wer darf dazugehören in Euroland, wer nicht? Wer wird zu den Verlierern des Spiels gehören, wer zu den Gewinnern? Wie die Wetterkarte so begleiten mittlerweile die Börsenkurse der Währungen und Aktien die täglichen Nachrichten. Auch hier Gewinner und Verlierer: Die Internationalisierung der Geldströme und die Umstellung der Wirtschaft auf den Vorrang des Kapital-Nutzens führt zu einem Spiel mit neuen Verlierern: Blühende Unternehmen mit vielen Beschäftigten können sterben, wenn der Kapitalmarkt es will. Niemand weiß so recht, wie dieser wildgewordene Kapitalismus zu bändigen wäre. Viele hoffen auch, durch das Mitspielen selbst zu Gewinnern zu werden. Was führt Menschen zusammen, und was trennt sie? (5) Der Wirklichkeitssinn von Weihnachten. Weihnachten erzählt: Mitten in der wirklichen Welt, mitten in den Bewegungen von Macht und Geld, entsteht eine andere Bewegung. Engel verlassen den Himmel, Hirten ihre Herde, Könige ihre Länder. Sie alle werden zusammengeführt: nicht weil Soldaten sie zwingen, sondern weil sie auf der Suche sind nach einem Kind. Sie alle werden zusammengeführt: nicht an den Futterkrippen persönlicher Bereicherung und gesteigerter Einnahmen, sondern an einer Krippe, in der ein Säugling liegt, weil er sonst nichts hat. Von dieser Gegenbewegung erzählt das Evangelium. Die antiken Geschichtsbücher schweigen darüber. Hätte es zu dieser Zeit Fernsehen und Zeitungen gegeben, wovon hätten sie berichtet? Sie hätten berichtet von den Truppenbewegungen der römischen Heere und von der Finanz- und Steuerpolitik des Kaisers Augustus. Ganz sicher nicht von diesem Säugling. Wo Geld und Macht den Nerv des Lebens ausmachen, da gibt es über diesen Säugling nichts zu sagen. Wo Geld und Macht die Grenze sind für unsere Wünsche und für unsere Vorstellungskraft, da gibt es über diesen Säugling nichts zu sagen. Die Weihnachtsgeschichte erzählt von diesem Kind. Weil der Glaube eine größere Sehnsucht hat und einen größeren Wirklichkeitssinn. Gott ist der, der uns zusammenführt, und Gott ist zu uns gekommen in diesem Kind. (6) Die Wahrheit von Weihnachten."Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt." Weihnachten in einem Satz. Gott selbst hat sich in Bewegung gesetzt und ist zu uns gekommen. Von dieser Bewegung erwartet das Evangelium alles. Nicht Konto- und Truppenbewegungen, sondern Gottes Bewegung auf uns zu: das ist für die Weihnachtsgeschichte das Entscheidende. Unter den Nachrichten des Tages die einzige Sensation, die wirkliche Neuigkeit. "Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt." Gott ist der, der uns zusammenführt. Nicht von außen, nicht von oben, nicht mit Druck und nicht durch Macht. Nicht durch die Versprechung eines sorgenfreien Lebens. An Weihnachten entscheidet sich, was uns zusammenführt und was uns trennt. An Weihnachten entscheidet sich, was den Nerv unseres Lebens treffen kann.
Wenn Sie der Weihnachtsgeschichte glauben, dann haben Sie gefunden, was Sie mit anderen Menschen zusammenführen kann. Dann haben Sie gefunden, was den Nerv Ihres Lebens treffen kann - für Zeit und Ewigkeit. Dann haben Sie wirklich: frohe Weihnachten.
Vor den Fenstern glänzt's wie Waffen,
Vor den Fenstern lärmen Knechte,
Heute wie vor tausend Jahren
Ernst Wiechert Der Abschnitt Lk 2,1-14 ist nach dem Lesezyklus der katholischen Kirche die Evangelienlesung für die Feier der Heiligen Nacht, der Abschnitt Joh 1,1-4.9-14 für den Gottesdienst am Weihnachtsmorgen.
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