Die atemlose Stille





Numeri 11,24-29 24 Mose versammelte siebzig Älteste des Volkes und stellte sie rings um das Zelt der Begegnung auf. 25 Der Herr kam in der Wolke herab und redete mit Mose. Er nahm etwas von dem Geist, der auf ihm ruhte, und legte ihn auf die siebzig Ältesten. Sobald der Geist auf ihnen ruhte, gerieten sie in prophetische Verzückung, die kein Ende nahm. 26 Zwei Männer aber waren im Lager geblieben; der eine hieß Eldad, der andere Medad. Auch über sie war der Geist gekommen. Sie standen in der Liste, waren aber nicht zum Offenbarungszelt hinausgegangen. Sie gerieten im Lager in prophetische Verzückung. 27 Ein junger Mann lief zu Mose und berichtete ihm: Eldad und Medad sind im Lager in prophetische Verzückung geraten. 28 Da ergriff Josua, der Sohn Nuns, der von Jugend an der Diener des Mose gewesen war, das Wort und sagte: Mose, mein Herr, hindere sie daran! 29 Doch Mose sagte zu ihm: Willst du dich für mich ereifern? Wenn nur das ganze Volk des Herrn zu Propheten würde, wenn nur der Herr seinen Geist auf sie alle legte!

Apostelgeschichte 2,1-6.12-17a: 1 Als der Pfingsttag gekommen war, befanden sich alle (Jüngerinnen und Jünger Jesu zusammen mit seiner Mutter) am gleichen Ort. 2 Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren. 3 Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. 4 Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab. 5 In Jerusalem aber wohnten Juden, fromme Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. 6 Als sich das Getöse erhob, strömte die Menge zusammen und war ganz bestürzt; denn jeder hörte sie in seiner Sprache reden. 12 Alle gerieten außer sich und waren ratlos. Die einen sagten zueinander: Was hat das zu bedeuten? 13 Andere aber spotteten: Sie sind vom süßen Wein betrunken. 14 Da trat Petrus auf, zusammen mit den Elf; er erhob seine Stimme und begann zu reden: Ihr Juden und alle Bewohner von Jerusalem! Dies sollt ihr wissen, achtet auf meine Worte! 15 Diese Männer sind nicht betrunken, wie ihr meint; es ist ja erst die dritte Stunde am Morgen; 16 sondern jetzt geschieht, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist: 17 In den letzten Tagen wird es geschehen, so spricht Gott: Ich werde von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch.


Stationen: Die Gabe der Tora / Der Glutwind der Befreiung / Der Wunsch des Mose / Die Erfahrung des Geistes / Die pfingstliche Stille

(1) Die Gabe der Tora. Die Erzählung aus der Tora des Mose versetzt uns in die Zeit der Wüstenwanderung Israels. Gott hat sein Volk durch Mose aus Ägypten befreit und führt es den Weg durch die Wüste ins verheißene Land. Diese Zeit in der Wüste unterscheidet Israels Glauben von den Religionen der Umwelt: Kein Tempel, keine Gottesstatue, keine Dynastie von Priestern und Königen mythischer Abstammung. Statt dessen: ein Zelt als Heiligtum, ein tragbarer Kasten mit Gottes Wort, ein von Gottes Geist ergriffener Anführer. So versteht Israel durch die Erfahrung der Geschichte das Wesen eines Gottes, der sich selbst ICH-BIN-DA nennt.

Die Erinnerung, dass Gott die bleierne Zeit der Sklaverei durchbrach, wird zum inneren Kern der Zeit und gestaltet den Rhythmus des Jahres: Aus den alten Frühlingsfesten der ungesäuerten Brote und der Frühlingslämmer wird das Paschafest, Ostern, das an den Auszug aus Ägypten erinnert. Aus dem alten Fest der Erstlingsgaben der Ernte wird das Wochenfest, Pfingsten, zum Gedenken an die Gottesbegegnung der befreiten Sklaven am Berg Sinai, zur Feier der "Gabe der Tora", der Weisung Gottes.

(2) Der Glutwind der Befreiung. Die Worte, die nach der Hebräischen Bibel Gott "Angesicht zu Angesicht, mitten aus dem Feuer" an das Volk richtet, werden am Pfingstfest in der Synagoge verlesen: das Zehnwort vom Sinai, die zehn Gebote (Deuteronomium 5,6-21):

Ich bin ICH-BIN-DA, dein Gott,
der dich heraufgeführt hat aus dem Land Ägypten,
aus dem Haus der Sklaverei.

I Keine andere Gottmacht vor mir wird für dich sein.

II Kein Kultbild wirst du dir machen und dich nicht verneigen vor ihnen und ihnen nicht dienen.

III Auf keinen Wahn wirst du den Namen deines Gottes ICH-BIN-DA übertragen.

IV Wahre den Tage der Feier, ihn zu heiligen, wie ICH-BIN-DA, dein Gott, dir gebot.

Sechs Tage diene und verrichte alle deine Arbeit,
aber der siebente Tag ist Feier für ICH-BIN-DA, deinen Gott:
damit ausruhe dein Knecht und deine Magd ganz so wie du,
gedenke, dass du Knecht warst im Land Ägypten.

V Ehre deinen Vater und deine Mutter.

VI Morden wirst du nicht.

VII Ehebrechen wirst du nicht.

VIII Stehlen wirst du nicht.

IX Falschaussagen wirst du nicht als Zeuge gegen deinen Nächsten.

X Begehren wirst du nicht all das, was deines Nächsten ist.

Das Zehnwort vom Sinai atmet den Glutwind der Befreiung: Die ehemaligen Sklaven, den Göttern Ägyptens dienstbar gemacht, dem Unsterblichkeitswahn vermeintlicher Gottkönige geopfert, erhalten eine Weisung zum Leben: die Unterbrechung aller Arbeit durch Zeiten der Feier, die Ehre der Alten, deren Arbeitskraft verbraucht ist, der Schutz der Rechte, die Freie von Sklaven unterscheiden, auf Leben, Familie und Eigentum. Im babylonischen Talmud (bPessachim 68b) heißt es:

Rabbi Eleasar sagte: Alle stimmen darin überein, dass man sich am Wochenfest (Pfingsten) der Freude hingeben müsse, weil an diesem Tage die Tora verliehen wurde.


(3) Der Wunsch des Mose. Das Gebot der Freude ist ein Paradox - ebenso wie das Leiden an der Freiheit. Davon erzählt die Tora des Mose, vom Murren des Volkes, das die Mühen des Wegs in die Freiheit wieder eintauschen möchte gegen die Sicherheit der Knechtschaft. So wird die Führung der Israeliten durch die Wüste für Mose zu einer Aufgabe, die ihn überlastet - ganz wie ein Erwachsener angesichts quengelnder Kinder. Mose weist Gott darauf hin, dass nicht er, sondern Gott die Mutter des Volkes sei (Numeri 11,12):
Habe ich denn dieses ganze Volk in meinem Schoß getragen? Oder habe ich es geboren, dass du zu mir sagen kannst: Trags an deiner Brust, wie der Wärter den Säugling trägt, hin in das Land, das du seinen Vorfahren zugeschworen hast.
So gewährt die göttliche Mutter Israels dem Mose Helfer: Mose soll mit siebzig vornehmen Israeliten aus dem Lager hinausgehen und zum Zeltheiligtum kommen. Aber da geschieht etwas Überraschendes. Zwei von den Siebzig hatten das Lager nicht verlassen. Da ergreift der Geist Gottes sie mitten unter den Wohnzelten und versetzt sie in prophetische Ekstase. Gottes Geist ist also nicht gebunden an die Trennung von Heiligtum und Zeltlager, von geistlich und weltlich, von Kirche und Welt. Gottes Geist weht, wo er will. Die Nachricht davon spricht sich schnell herum von den Wohnzelten bis zum Heiligtum. Als Josua, der Knecht des Mose, davon erfährt, reagiert er ungehalten. In der Begeisterung der beiden Männer im Lager sieht er nur eine Störung der Ordnung: Sie bricht mit der strengen Trennung zwischen Heiligtum und Alltagswelt; sie bricht mit der strengen Trennung zwischen Volk und Ältesten. Vielleicht hat Josua auch gedacht: Diese Begeisterung ist eine Gefahr für die besondere Autorität des Mose und für meine. Das Verblüffende an der Erzählung der Tora ist die Antwort des Mose. Mose nämlich gibt Josua nicht recht. Er will gar nicht verhindern, dass sich die beiden im Lager genauso vom Geist ergriffen zeigen wie die anderen im Heiligtum. Ganz im Gegenteil weist Mose Josua zurecht (Numeri 11,29):
Wenn nur das ganze Volk des Herrn zu Propheten würde! wenn nur der Herr seinen Geist auf sie alle legte!
Das ist ein wirklich frommer Wunsch! Das ist der Wunsch, dass im Gottesvolk Pfingsten anbricht. Der Wunsch des Mose bleibt in der Bibel lebendig. So verheißt der Prophet Joel Israel im Namen Gottes (Joel 3,1):
Es wird geschehen, dass ich meinen Geist ausgieße über alles Lebendige. Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein.


(4) Die Erfahrung des Geistes. In den Worten des Propheten Joel ist aus dem Wunsch des Mose nach Gottes Geist für alle eine göttliche Verheißung geworden. Im Glauben der ersten Jüngerinnen und Jünger Jesu hat sich diese Verheißung erfüllt. In der Treue Gottes zum gefolterten und hingerichteten Jesus sahen sie ein neues Paschafest, in der Teilhabe an seinem Geist ein neues Pfingsten. Die Apostelgeschichte (Apg 2,16-17) berichtet, dass die Jerusalemer Predigt des Petrus am Pfingsttag mit diesen Worten angefangen habe:
Ihr Bewohner Jerusalems, heute ist geschehen, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist: Es wird geschehen, spricht Gott, dass ich meinen Geist ausgieße über alles Lebendige. Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein.
Fast zweitausend Jahre später spiegelt sich diese frühchristliche Predigt in den Worten des Zweiten Vatikanischen Konzils (Lumen gentium 12):
Das Volk Gottes nimmt teil an dem prophetischen Amt Christi, in der Verbreitung seines lebendigen Zeugnisses vor allem durch ein Leben in Glaube und Liebe. Der heilige Geist teilt den einzelnen, wie er will, seine Gaben aus und verteilt unter den Gläubigen jeglichen Standes besondere Gnaden.


(5) Die pfingstliche Stille. Die Ältesten Israels, die vom Geist ergriffen wurden, gerieten in prophetische Ekstase. Von den Aposteln am Pfingsttag ist berichtet, sie erweckten den Eindruck, bereits am Morgen betrunken zu sein. Wahr ist, dass Gottes Geist ein anderes Bewusstsein heraufführt als das des rechnenden Alltagskalküls. Dennoch lässt sich Gottes Wirken nicht gleichsetzen mit besonderen psychologischen Phänomenen oder gar den "Technologien des Selbst" (M. Foucault), die solche erzeugen. Das kirchliche Stundengebet spricht in einem Hymnus von "des Geistes klarer Trunkenheit". So wie die Zeiten des Wirkens Jesu unter den Menschen seine Stunden der Abgeschiedenheit und Stille im Gebet voraussetzten, so setzt ein pfingstliches Reden von Gott voraus, dass Gott gesprochen hat. In der Stille. Im Schweigen der Menschen. Pfingsten ist nicht einfach ein Fest irgendeiner "Begeisterung", auch keiner liturgisch "kommandierten". Pfingsten ist kein religiöser Fun-Event. Pfingsten kommt aus einer atemlosen Stille, die auf den Glutwind der Befreiung folgt:
Als Gott die Tora gab, zwitscherte kein Vogel, flatterte kein Huhn, muhte kein Rind. Keiner der Dienstengel bewegte einen Flügel, und die Thronengel sangen nicht "Heilig, heilig", das Meer brauste nicht und die Menschen redeten nicht. In der ganzen Welt herrschte atemlose Stille, und die Stimme fuhr fort: Ich bin ICH-BIN-DA, dein Gott. Als Gott auf dem Berg Sinai sprach, wurde die ganze Welt still, so dass alle Menschen hören konnten: Es gibt nichts außer ihm.
(Jüdischer Midrasch)


Nach der Leseordnung der katholischen Kirche werden die Verse 1-11 aus dem zweiten Kapitel der Apostelgeschichte am Pfingstfest gelesen.



Druckfassung





© Ulrich Sander

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