Enttäuschungsbereiter Glaube
Stationen: Wurzel der Enttäuschung / Hosanna! / Ans Kreuz! / Die Juden am Kreuz / Enttäuschungsbereiter Glaube / Verteilte Rollen 1. Wurzel der Enttäuschung. Es ist die Wurzel mancher Enttäuschung: das lange Sündenregister des Christentums, seine Kriminalgeschichte. Im Jubiläumsjahr 2000 hat Johannes Paul II. eine Bußliturgie der Kirche gefeiert und im Rückblick auf zweitausend Jahre Kirchengeschichte ein Sündenbekenntnis abgelegt. Dass es ihm damit ernst war, zeigt ein Buch, das bereits 1993 in Italien erschienen ist und für Aufruhr sorgte: Luigi Accatoli, Wenn der Papst um Verzeihung bittet. Die "Mea culpa" Johannes Pauls II.
2. Hosanna! Eigentlich kann das päpstliche Sündenbekenntnis keine Sensation sein für den, der die Erzählungen der Evangelien zur Kenntnis nimmt und die Spannung, die sie ausbreiten. Denn eine gewaltige Spannung liegt zwischen den beiden Evangelienerzählungen der Passionszeit, dem sogenannten "Einzug Jesu nach Jerusalem" und der Leidensgeschichte, zwischen Hosanna-Rufen und Ans-Kreuz-Geschrei. In der einen Evangelienerzählung sehen wir Jesus aus Galilaä nach Jerusalem kommen. In Jerusalem hat man von seinen klaren Worten, seinem heilsamen Wirken gehört: Sein Ruf ist ihm vorausgeeilt. Es hat sich herumgesprochen, wer da kommt. Die Hoffnung vieler auf eine grundlegende Wende und Besserung ihres Lebens: Jetzt richtet sie sich auf Jesus. Menschen geraten in Begeisterung. Sie bereiten Jesus einen Empfang wie einem König. Gefährliche Worte in einem besetzten Land: "Hosanna! Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn!" Es waren ganz unterschiedliche Hoffnungen und Sehnsüchte, die zur Zeit Jesu unter seinen Zeitgenossen lebendig waren. Viele dieser Erwartungen richteten sie auf Jesus, als sie ihm begegneten. Aber wenige verstanden, dass Jesus in keines der vorgegebenen Schemata passte. Wenige waren bereit, ihre Wünsche der Begegnung mit dem wirklichen Jesus auszusetzen und sie durch ihn verwandeln zu lassen. Das Evangelium erzählt, wie anfängliche Begeisterung in Unverständnis und Ablehnung ausläuft. Die Jünger Jesu, der engste Kreis, sind dafür ein Paradebeispiel. 3. Ans Kreuz! Auch die andere Evangelienerzählung, der Bericht vom Leiden Jesu, von seiner Angst, seiner Folter, seiner Hinrichtung, zeigt Jesus und eine Menge von Menschen. Menschen, von denen es heißt: Sie wurden aufgewiegelt. Menschen, deren Hoffnung anscheinend in bitterste Enttäuschung umgeschlagen ist. Sie lassen sich benutzen, Statisten bei einem Justizmord zu werden: "Ans Kreuz mit ihm!" so rufen sie. Zwischen der Wendung vom Hosanna zum Ans- Kreuz liegt nach der Erzählung des Evangeliums nicht viel: nicht viel Zeit, kein großes Ereignis. Fast unheimlich, wie schnell der Umschlag geschehen ist. Bedrängend ist das. Auch deshalb, weil es nicht einfach ein längst vergangenes Geschehen ist. Eine solche Wende und Doppelgesichtigkeit religiöser Erfahrung begleitet uns durch die Geschichte hindurch - bis hin unsere Gegenwart hinein. Wie ein Schatten. Denn das, was damals geschehen ist und wovon das Evangelium berichtet, das gab und das gibt es auch heute. Auch in der Kirche. Unsere religiösen Vorstellungen, unsere Wünsche und Sicherheiten der Begegnung mit der Wirklichkeit aussetzen, sie korrigieren und verwandeln lassen: Das ist notwendig, und dafür braucht es einen starken Glauben. Ein schwacher Glaube erträgt es nicht, in den eigenen Vorstellungen enttäuscht zu werden. 4. Die Juden am Kreuz. Gerade im Verhältnis der christlichen Kirche zu jüdischen Gläubigen ist die Geschichte voll von diesem schwachen Glauben. Die Enttäuschung, daß die Mehrheit der jüdischen Gemeinde Jesus nicht als Erlöser angenommen hat, schlug um in Hass und Ausgrenzung. Die Hinrichtung Jesu, auf Betreiben der religiösen Obrigkeit seiner Zeit von der römischen Besatzungsmacht ins Werk gesetzt, wurde "den Juden" zur Last gelegt. Bereits das Mattäusevangelium ist nicht frei von Aggression aus Enttäuschung. Aggression macht blind:
Die Zerstörung des Tempels im Jahre 70 nach Christus durch die römischen Zwingherren wird als Folge eines Fluchs gedeutet: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder". Der in den Annalen als eher skrupellos beschriebene Gouverneur Pontius Pilatus erscheint dagegen als betroffen durch die Anklage eines Unschuldigen.
Hätte der jesusgläubige Jude Mattäus geahnt, welche Folgen seine Erzählung haben würde!
Bis in unser Jahrhundert hinein sahen Christen kaum, dass sie selbst unter Berufung auf diese
böse Schuldzuschreibung wiederholten, was im Prozess Jesu
geschehen ist. Erst ein Gebet, das dem seligen Papst Johannes XXIII. zugeschrieben wird,
formuliert diese Einsicht als Schuldbekenntnis:
5. Enttäuschungsbereiter Glaube. Unsere religiösen Vorstellungen, unsere Wünsche und Sicherheiten der Begegnung mit der Wirklichkeit aussetzen, sie korrigieren und verwandeln lassen. Das wäre eine große Überschrift über liegengebliebene Fragen. Das wäre eine heilsame Alternative zu vielen Formen kirchlicher Befassung mit Menschen, die der Gemeinschaft der Kirche den Rücken gekehrt haben. Vielleicht kann man das einen enttäuschungsbereiten Glauben nennen.
6. Verteilte Rollen. "Hosanna" und "Ans Kreuz": Die Evangelienerzählungen sind Geschichten mit verschiedenen
Stimmen und mit verteilten Rollen. Jede trägt ihre eigenen Züge. Ich wünsche Ihnen, dass Ihnen die
Besinnung auf diese Erzählungen hilft herauszufinden, welche Stimme, welche Rolle in Ihrem eigenen Leben gerade am Wirken ist.
Die Erzählung Mt 21,1-11 und die Leidensgeschichte Jesu nach dem Mattäusevangelium, von der Mt 27,20-26 einen Abschnitt darstellt, sind Evangelienlesungen am Palmsonntag nach der Leseordnung der katholischen Kirche im Lesejahr A.
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